Die Psychologie der Portraitfotografie

Im Oktober entschied ich mich, am „Andreas Jorns Meetup“ teilzunehmen. Die Aussicht auf einen langen Winter, nur kurz unterbrochen von den Feiertagen zum Jahresende, ansonsten jedoch geprägt von der kräftezehrenden Arbeit an einem Großprojekt bei CosmoCode – mit Tagen, die aus nahtlos aneinandergereihten Meetings bestanden – weckte in mir das Bedürfnis nach einer mentalen Erfrischung in Form einer Reise.

Anfang des Jahres hatte ich bereits an einem Fotoworkshop in Glasgow teilgenommen, daher durchstöberte ich das Netz auf der Suche nach ähnlichen Angeboten. Dabei stieß ich – einmal mehr – auf Andreas Jorns. Andreas Jorns teilt seine fotografische Expertise in einer Reihe von Workshops, die er traditionell mit einem „Meetup“ abschließt – einem Treffen von Fotografen, das im Sporthotel Baltic in Zinnowitz stattfindet.

Viel mehr wusste ich nicht, als ich buchte. Und genau das machte die Vorfreude aus: Mich überraschen lassen, die Perspektive wechseln und vielleicht auch die eigene Rolle neu definieren. Für ein paar Tage als Fotograf fühlen, irgendwo zwischen Amateurknipser und Berufsfotograf, und je nach Blickwinkel und Gesprächsthema mal näher am einen, mal näher am anderen Ende. Sorgen, deplatziert zu sein, hatte ich keine. Ist nicht eine gewisse Gelassenheit einer der Vorteile, die das fortschreitende Leben mit sich bringt? Die Kinder sind groß, die erreichten Ziele liegen hinter einem, und die unerreichbaren scheren einen nicht mehr.

Notfallplan

Eine Woche vor dem Termin veröffentlichte Andreas Jorns ein Rahmenprogramm, und in der zugehörigen Facebook-Gruppe wurde es zunehmend lebendiger. Ich schrieb einen Begrüßungspost, entschied mich dann jedoch, ihn nicht abzuschicken, während ich durch die Profile der anderen Teilnehmer scrollte. (Ein wenig voyeuristisch ist das schon – aber genau dafür ist Facebook doch gemacht, oder?) Die meisten Fotos meiner zukünftigen Mitstreiter:innen stammten aus der People-Fotografie und beeindruckten mich so sehr, dass ich mich selbst schnell in die Ecke der Amateure einsortierte. Natürlich hatte ich schon Portraits gemacht – bei Tageslicht und im Blitzstudio, von Familie, Freunden und Kollegen –, aber das hier war eine ganz andere Liga. Meine selbstverliehene Gelassenheit schrumpelte zusammen wie ein Luftballon nach einer Geburtstagsfeier.

Als Notfallplan griff ich zu Komoot und suchte schnell ein paar Wanderungen in und um Zinnowitz heraus. Statt zusätzliche Fotostative einzupacken, wanderte festes Schuhwerk in die Reisetasche – für den Fall, dass mich die Dynamik des Meetups abschrecken sollte. Dann würde ich eben als Wanderer unterwegs sein und dabei Landschaften, Küsten, Wolken und das Meer fotografieren. Das hätte ohnehin gut zu meiner nebenberuflichen Tätigkeit gepasst, denn im Gepäck befand sich auch der Umbruch meines Wanderbuchs über das Havelland, den ich noch fristgerecht korrigieren musste.

Anreise

Der Tag der Anreise näherte sich wie ein Zug im Tunnel: Zunächst erkennt man ihn nur aus der Ferne, irgendwo in der Zukunft, und plötzlich ist er da – die Gegenwart packt einen, und ehe man sich versieht, steht man an der Rezeption und räumt wenig später seine Tasche in einem Zimmer aus, das problemlos auch eine Kleinfamilie beherbergen könnte. Mein Zimmer hatte ich kurzfristig auf die Seeseite upgegradet, doch die Begeisterung hielt sich in Grenzen: Vom zweiten Stock aus reichte der Blick nur bis zum Horizont der Bäume des Küstenstreifens, der freie Meerblick blieb mir verwehrt. Dafür entschädigte mich jedoch das beruhigende Meeresrauschen, das mich nachts bei offenem Fenster in den Schlaf begleitete.

Mitbringsel

Andreas Jorns hatte eine dicht gepackte Agenda vorbereitet, deren Schwerpunkt auf Freitag und Samstag lag. Bereits im Vorfeld hatte er darum gebeten, Bildbände mitzubringen, die den Teilnehmern persönlich etwas bedeuten, um darüber sprechen zu können. Der Wunsch war nicht wirklich überraschend, da seine Workshops häufig auf die Erstellung einer Fotoserie abzielen, deren krönendes Ergebnis ein Bildband darstellt.

Mit leeren Händen wollte ich nicht anreisen, vielleicht sind wir ja nur 20 Leute, und dann bin ich der einzige, der seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. Eine gute Gelegenheit, im Bücherschrank zu stöbern. Ich fischte drei Bücher raus, die in der Reisetasche landeten:

Odessa: Wien, wie es nie war, aber mit Meer von David Staretz. Ein Buch, das kurz vor dem Angriffskrieg in der Ukraine entstand. Ein liebevolles Portrait der chaotischen, melancholischen Stadt, das - kaum publiziert - keine Zustandsbeschreibung, sondern nur noch eine Einnerung ist

TIME OUT - Leere Läden in Berlin von Hannes Wanderer und Andreas Göx. Mit Hannes habe ich gut 10 Jahre zusammengearbeitet, als er noch in der Peperoni Werbeagentur beschäftigt war. Das Buch TIME OUT zeigt leere, verlassene Läden in Berlin. 10 Jahre nach dem Mauerfall lässt das Buch Blicke werfen auf gescheiterte oder beendete Existenzen, in Ladengeschäfte, deren Inventare und Tapeten von den vergangenen Träumen und Tätigkeiten zeugen.

Für mich hat das Buch große Bedeutung. Hannes gründete den Peperoni Buchverlag, wo er geradezu besessen Bücher - Bildbände - produzierte, und betrieb den Buchladen 25books in der Brunnenstraße in Berlin. Er starb zu früh 2018. Der Bildband TIMEOUT begründete seinen Einstieg in seine letzte Schaffensphase, und zeigte mir, dass Bilder im Kontext eines Themas eine Kraft entfalten, die sie - als Einzelkunstwerk - nicht besitzen.

Das dritte Buch ist Vivian Maiers Street Photographer, in meinen Augen die Bibel der Streetfotografie. Es ist ein Zeitdokument der 50er-70er Jahre, und Vivian Maiers Gespür für den richtigen Augenblick ist grandios, erst recht, wenn man bedenkt, dass die Fotos mit einer analogen Rolleiflex ohne jede Automatik geschossen wurden. Mir war natürlich klar, dass ich mit diesem Buch keinen Applaus bekommen würde; es wäre so, als wenn man bei einem Festival der italienischen Küche einen Teller Spaghetti Bolognese beisteuert. Mag jeder, aber kennt eben auch jeder.

Ich räumte die Bücher in Zinnowitz aus meiner Tasche und stellte sie auf das Regal in meinem Zimmer, wo sie bis zur Abreise unberührt liegen blieben – ein Umstand, der mich im Voraus wohl kaum gestört hätte.

Die Kunst, nicht auf den Auslöser zu drücken

Außerdem holte ich die Kameras aus der Reisetasche und machte mich auf den Weg zum Strand. Die Dämmerung eines trüben Dezembertages tauchte die Szenerie in trübes Grau, und ich fotografierte eher unambitioniert die Tauchgondel der Seebrücke. Meine Kameras sollten im Folgenden nicht mehr zum Einsatz kommen – eine Tatsache, die mich durchaus irritierte hätte. Selbst jetzt, Wochen nach den Tagen in Zinnowitz, während ich diesen Artikel schreibe, liegen sie unberührt in ihren Taschen, ihre Akkus entladen sich durch das bloße Warten auf eine erneute Zuwendung meinerseits.

Gemäß dem wunderbaren Zitat “Fotografie ist die Kunst, nicht auf den Auslöser zu drücken” (ich glaube, von Feininger) bin ich also auf dem besten Weg ein Künstler zu werden.

Der Meetup hatte sicherlich nicht das Ziel, die Teilnehmer vom Fotografieren abzubringen. In meinem Fall ist es aber so, dass ich meine Haltung zur Fotografie überdenke, dafür eine zeitlang die Pausetaste drücke.

Zur Peoplefotografie gehören Drei

Ich möchte direkt zum Punkt kommen, zu dem, was mich nachhaltig bewegt hat und es immer noch tut. Ich war mit der Erwartung angereist, hilfreiche Tipps und Best Practices für die Portrait- und Peoplefotografie zu erhalten – womöglich in Form von Rezepten, wie man sie aus anderen Genres der Fotografie kennt.

Doch der Workshop hat mir gezeigt, dass genau das in der Portraitfotografie nicht funktioniert. Sie ist vielmehr ein Zwiegespräch, das Offenheit und Vertrauen erfordert. Es geht nicht nur um Technik, sondern um die Fähigkeit, Licht und Schatten der Seele einzufangen.

Selflove

Am Donnerstag eröffnete Bea Hinteregger ihre Ausstellung Selflove, ein Fotoprojekt, das im Februar bei Andreas Jorns entstanden war. Die Ausstellung befand sich im östlichen Trakt des Hotels, im ersten Stock, für die Teilnehmer frei zugänglich. Ich hatte die Fotos bereits zuvor betrachtet – so, wie man Fotos eben betrachtet: Manche ziehen einen magisch an, bei anderen geht man schneller weiter. Auf allen Bildern war ein junger Mann zu sehen, was ich zunächst nicht ganz einordnen konnte.

Während der Ausstellungseröffnung erzählte Bea von dem Workshop, der zu diesen Fotos geführt hatte. Sie erklärte, dass sie nach einer schwierigen Phase in ihrem Leben die Geschichte eines Absturzes und der darauffolgenden Heilung erzählen wollte – das Thema, das sie fotografisch umgesetzt hatte. In den Gesprächen während der Führung ging sie darauf ein, wie diese Bilder entstanden waren. Natürlich hatte sie eine klare Vorstellung der Bildkonzepte, doch wie bringt man jemanden, in diesem Fall Sascha, das Model, dazu, solch intensive emotionale Zustände auszudrücken?

So etwas funktioniert natürlich nicht durch konkrete Anweisungen. Stattdessen muss man das Model dazu bringen, diese Emotionen nachzuempfinden, es gilt eine Beziehung aufzubauen und einen Raum der Begegnung zu schaffen. Es ist klar, dass Sascha nicht Beas Emotionen darstellte - sondern seine Interpretation davon. Denn unsere
zwischenmenschliche Kommunikation nimmt immer gefiltert wahr; Gedanken und Worte werden gemäß unserer subjektiven Schemata verzerrt.

Die Fotos sind das gemeinsame Ergebnis von Bea und Sascha. Zwischen Fotografin und Model ist der Funke übergesprungen, beim Publikum, der dritten Partei, genauso. Es ist wie bei der Musik: Komponist, Musiker und Publikum zusammen definieren das Erlebnis - gemeinsam, aber dennoch jeder für sich.

Seltsame Dinge

Andreas Jorns präsentierte am nächsten Tag seine Präsentation „Seltsame Dinge, verwaiste Melodien“. Er gewährte Einblicke in Entwicklungsprozess seines Werdegangs, und besonders eine Aussage blieb mir nachhaltig in Erinnerung: Seine Portraitshootings dauern vier Stunden, von denen 3,5 Stunden für Gespräche und Kaffee genutzt werden. In der letzten halben Stunde wird fotografiert. Diese Zeit vor dem Fotografieren dient dem Aufbau von Vertrauen, damit sich die Portraitierten öffnen und zeigen können.

Ein solcher Ansatz lässt sich natürlich nicht in einfache Rezepte fassen. Es erfordert eine empathische Haltung und die Fähigkeit, sich auf den Menschen einzulassen. Hierbei geht es nicht primär um das fotografische Handwerk, sondern um Menschlichkeit und Verständnis. Manchmal, so schien es, geht es sogar weniger um das fertige Foto als um den Prozess selbst. Andreas Jorns erzählte von einer Frau, die ihn in einem Moment tiefer Trauer aufsuchte, um ein Portraitshooting zu machen – nicht als Erinnerung, sondern als Teil ihres Heilungsprozesses. Er zeigte die entstandenen Bilder, die den Schlussakkord eines emotionalen Kapitels bilden.

Ein weiterer Aspekt seiner Arbeit kam in den späteren gezeigten Fotos zum Ausdruck: Einige seiner Portraits zeigen die Protagonist:innen unbekleidet. Hierbei habe ich persönlich meine Schwierigkeiten, insbesondere mit Aktfotografien, die junge Frauen in erotischen Posen darstellen. Aus vielerlei Gründen empfinde ich solche Bilder als problematisch, nicht aus Prüderie, sondern weil sie – trotz ihrer technischen und künstlerischen Herausforderungen – oft zu leicht ihr Publikum finden. Doch es gibt auch Aktfotos abseits dieser Disziplin. Andreas Jorns bezeichnet auch diese Arbeiten als Portraits. Denn das Ablegen der Kleidung zeigt mehr als nur den Körper: Es nimmt die äußere Schutzhülle und enthüllt eine neue, oft ungewohnte Seite der porträtierten Person.

Die Botschaften von Bea und Andreas Jorns haben eine große Überdeckung: das Portrait ist letztlich das Ergebnis der Annäherung zwischen Fotograf:in und Model, es ist die Ausarbeitung (und manchmal auch Aufarbeitung) der seelischen Zustände.

Erwartungserwartung

Fast könne man meinen, ein Fotoshooting gleiche einer therapeutischen Sitzung. Und es ist sicherlich kein Zufall, dass Andreas Jorns die Psychologin Fee Kalter als Referentin einlud, um diese Verwandtschaft aus einem psychologischen Blickwinkel zu beleuchten.

Die Herausforderung der Portraitfotografie besteht darin, das ideale Bild, das wir von uns selbst haben, mit unserem realen Selbstbild in Einklang zu bringen. Wir tragen Geheimnisse in uns, die wir anderen nicht offenbaren, und haben blinde Flecken – Eigenschaften, die wir selbst nicht wahrnehmen, die jedoch für andere offensichtlich sind. In solchen Fällen stimmen unser Idealbild und das Bild, das andere von uns haben, nicht überein. Diese beiden Bilder bedingen einander, denn unsere Persönlichkeit entwickelt sich in der Gemeinschaft: „Das Ich entsteht im Wir“, wie Martin Buber es ausdrückte. Für das Drängen in uns, so zu sein, wie andere es von uns erwarten, hat Fee den schönen Begriff “Erwartungserwartung” gefunden.

Ein interessantes Modell zur Veranschaulichung dieser Dynamik ist das Johari-Fenster, das vier Bereiche beschreibt: den offenen Bereich (was sowohl wir selbst als auch andere über uns wissen), den verborgenen Bereich (unsere Geheimnisse), den blinden Fleck (was andere sehen, wir selbst aber nicht wahrnehmen) und den unbekannten Bereich (was weder uns noch anderen bewusst ist).

Gerade in der Portraitfotografie werden diese Differenzen zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung sichtbar. Solche Bilder können uns zeigen, wie andere uns sehen, und uns dabei helfen, uns selbst besser zu verstehen. Genau diese Spannungen und Überlappungen machen Portraits so faszinierend und persönlich.

Wie ich die Lust am Fotografieren verlernte

Die Vorträge und Gespräche mit den anderen Teilnehmer:innen haben mich tief berührt und nachhaltig beeinflusst. Es geht nicht nur um das Foto an sich, sondern um die Geschichte und die Beweggründe, die dahinterstehen. Beifall und Anerkennung – niemand ist dagegen immun. Sie vermitteln uns das Gefühl, in unserem Streben verstanden zu werden. Doch das alleinige Streben nach Aufmerksamkeit ist weder nachhaltig noch gesund.

Wenn ich mich selbst betrachte, so herrscht in meinem Leben zu viel Routine, zu viel blindes Funktionieren ohne wirkliche Aufmerksamkeit.

Eingeschliffene Reflexe lassen die Tage an mir vorbeiziehen. Auch die Fotografie, die ich durch die beiden Wanderführer, die ich in den letzten Jahren geschrieben, erwandert und fotografiert habe, ist zu einer bloßen Gewohnheit verkommen. Diese Erkenntnis schlummerte bereits in mir, doch das Meetup hat sie mir deutlich vor Augen geführt.

Wenn ich jetzt die Kamera in die Hand nehmen will, frage ich mich, wozu. Was möchte ich mit diesem Foto ausdrücken? Was will ich mit dem Bild nachher anfangen? Ich freue mich auf die Tage, an denen ich diese Frage beantworten kann – sie werden kommen. Doch bis dahin ist fotografisches Heilfasten angesagt, um wieder Raum für Inspiration zu schaffen.

Fuck the Midtones

Thomas Gerwers (der Herausgeber des ProfiFOTO Magazins) schwärmte in einem anderen Vortrag (die Agenda war voll mit Vorträgen, manche musste ich auslassen, um erst einmal den vorigen zu verdauen) über die Erstellung von Fotobüchern und kam auf den renommierten Steidl Verlag zu sprechen. Er zeigte einen Beutel des Verlags, auf dem der kraftvolle Slogan „Fuck the Midtones“ prangte. Bis dahin war mir Steidl kein Begriff – ein Verlag von Weltruf, beheimatet in Göttingen. Thomas Gerwers beschrieb die Besessenheit und Perfektion, mit der dort Bücher umgesetzt werden. Diese Leidenschaft erinnerte mich an Hannes Wanderer, der letztlich der kompromisslosen Hingabe an die Erstellung von Bildbänden zum Opfer fiel.

Steidl veröffentlichte Robert Franks „The Americans“, das wohl wegweisendste Buch der Fotobuchgeschichte. Es war radikal in seiner Umsetzung – nicht einmal Seitenzahlen sollte es haben. Die Bilder sollten für sich stehen, und allein durch ihre Reihenfolge in einen Erzählfluss gebracht werden. Der Anspruch, ein Kunstwerk möge durch sich selber sprechen, ist nachvollziehbar. Es gibt Fotos und Fotoserien, die allein wirken, die ohne Beipackzettel auskommen. Doch solche Fotos sind selten, zumindest für mich. Die meisten Bilder begeistern mich erst richtig, wenn ich ihren Kontext kenne.

Das gilt auch für die Serien, die mich während des Meetups beeindruckt haben: Beas Selflove-Projekt oder Andreas Jorns’ Portraits entfalten ihre volle Wirkung, wenn man die Umstände ihrer Entstehung versteht. Und das Gleiche gilt für die Fotobücher, die ich mitgebracht hatte. Odessa erzählt eine Geschichte von einer Stadt, die inzwischen zerstört ist. Time Out zeigt die Folgen der Wiedervereinigung anhand leerstehender Läden. Ohne diesen Kontext wären die Fotos für mich nicht dasselbe.

Genau deshalb liebe ich meinen Blog. Hier kann ich Fotos zeigen und die Geschichten dahinter erzählen. Und manchmal, wenn es passt, gibt es auch ganz viel Text – ganz ohne Fotos.

… und sonst?

Eigentlich wollte ich diesen Artikel mit dem vorletzten Absatz beenden, aber ein paar Dinge möchte ich noch erwähnen.

Es waren keine 20 Teilnehmer, sondern 130 – mehr hätten schlicht nicht in den Speisesaal gepasst. Und wie erging es mir, alleine, als Rookie? Bin ich untergegangen? Dass das Meetup seine Spuren hinterlassen hat, steht außer Frage. Bei manchen Vorträgen und besonders während der gemeinsamen Mahlzeiten suchte ich mir oft Plätze, an denen andere einsame Wölfe saßen. Zu meiner Überraschung entpuppten sich einige dieser Sitznachbarn als Vorhut einer Freundesgruppe, die mich ganz selbstverständlich in ihrer Mitte aufnahm.

Ich habe den Eindruck, dass der Großteil der Teilnehmer:innen seine fotografischen Erfahrungen in der Peoplefotografie gesammelt hat – oder schließlich dort angekommen ist. Die Königsdisziplin der Fotografie, wie mir ein Tischnachbar zuraunte. Dieser Satz ließ mich nachdenklich werden (und tut es jetzt, während ich schreibe, erneut). Ich denke, dass die Fotografie mehrere Gipfel hat, deren Spitzen zu erklimmen nicht jedem vergönnt ist. Aber die Fotografie von Menschen, von Menschlichem, erfordert ein besonderes Gespür. Vergleiche ich die Fotografie mit der Literatur, so ist die Peoplefotografie wohl die Belletristik – eine Kunst, die von feinem Einfühlungsvermögen lebt.

Beeindruckend war es auch, die Vielfalt der Berufe und Interessen der Teilnehmer:innen zu erleben. Ich hatte ein wunderbares Gespräch mit einem Mann aus Osnabrück, der Landschaften und Tiere fotografiert. Er ist, so glaube ich, Fernfahrer, und auf seinem Beifahrersitz liegt immer eine Kamera griffbereit. Wie ich hat er ein großes Faible für die analoge Fotografie. Ein anderer erzählte von seiner baldigen Ausstellung mit 70 Bildern in seiner Heimatstadt und davon, wie er versucht hatte, die Demenz seiner Mutter mit einem Memory-Spiel aus Familienfotos aufzuhalten. Welch anrührendes und bewegendes Unterfangen.

Das bringt mich zurück zu den Vorträgen. Wie ich dort lernte, gibt es im Gehirn einen Bereich, das Fusiforme facial areal (FFA), der auf die Erkennung von Gesichtern spezialisiert ist.

Wenn wir Gesichter sehen, so können wir gar nicht anders, als sie zu betrachten.

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