Das wunderbare Örtchen Stölln im Westhavelland. Von wegen 'Fliegerei interessiert mich nicht' - so viel zu sehen, so viel Charme!

An Stölln bin ich in den letzten Monaten häufig vorbeigefahren, wohl wissend, dass es dort einiges zu sehen gibt was mit Fliegerei zu tun hat - der Gollenberg, an dem Otto Lilienthal seine Flugübungen durchführte und schließlich verunglückte, die Passagiermaschine “Lady Agnes”, die als Museum auf einer Wiese vor dem Gollenberg steht, und zu guter Letzt noch ein extra Museum für Otto Lilienthal im Ortskern von Stölln.

Doch stets hatte ich Ausreden parat, um mir den Besuch zu verkneifen. Denn auf meinen Radtouren wollte ich die Natur erleben und mich nicht in einem Museum langweilen. Der Fliegerei-Museumskram interessiert mich halt nicht.

Nun schreibe ich ein Buch über Radtouren im Havelland, und eine tolle Tour geht über das flache Rhinluch nach Stölln und weiter über die schöne Landschaft nach Görne. Also muss ich nun doch Stölln besuchen um mir die Dinge dort genau anschauen, andernfalls kann ich schwerlich darüber schreiben.

Am liebsten würde ich mit meiner Frau Moni dorthin. “Der Fliegerei-Museumskram interessiert mich nicht”, sagt sie entschuldigend. Also fahre ich alleine.

Frie ut’n Sack!

Von Berlin aus geht die Anfahrt über die B5 via Lietzow, Ribbeck, Selbelang bis Friesack. Dort am Kreisverkehr Richtung Kleßen/Rhinow. Im Kreisververkehr von Friesack steht eine Skulptur vom Teufel mit einem Sack: Der Legende nach flog er auf dem Weg zur Hölle mit einem Sack voller Edelleute - die von Bredows - über Friesack, wor er am Kirchturm hängenblieb und alle herauspurzelten. Nun aus dem Sack befreit - Frie ut’n Sack = Friesack - verteilten sie sich in der Gegend.

Zwischen Friesack und Stölln ist die Landschaft zauberhaft, man fährt durch Laubwälder und Alleen, rechts erstreckt sich das flache Rhinluch, und vor mir taucht eine Hügelkette auf. Ich nähere mich Stölln mit dem Gollenberg.

Lady Agnes

Erst kommt ein kleiner Parkplatz mit einem Weg zur Absturzstelle Lilienthals (ich fahre dran vorbei), dann das Ortsschild, und kurz danach geht der Weg links einen breiten Weg den Hügel hinauf. Oben auf der Wiese befindet sich der älteste Flugplatz der Welt - er ist seit 1894 in Betrieb. Und dort steht eine Interflug-Passagiermaschine - mitten in der Landschaft. In einer halsbrecherischen Landung ist sie 1989 zu Ehren Lilienthals dort gelandet. Das Video der Landung ist sehenswert. Eine große Passagiermaschine auf einem kurzen Acker zu landen anstelle auf einer langen Landebahn ist eine Meisterleistung gewesen.

Für 5 € Eintritt betritt man über einen niedlichen “Hangar” das eingezäunte Gelände. Es ist faszinierend, das Flugzeug hier in dieser Umgebung zu sehen. Im Flugzeug gibt es Ostalgie - Koffer mit Interflug Aufklebern, ein Servierwagen mit Brause und Rotkäppchen. In die Pilotenkanzel kann man einen Blick werfen, im Heck sich trauen lassen. Das hat alles viel Charme! An den Gepäckfächern hängen Infos zur Geschichte der Interflug.

Iljuschin in Stölln - die Lady Agnes
Iljuschin in Stölln - die Lady Agnes

Museumshangar in Stölln bei der Lady Agnes
Museumshangar in Stölln bei der Lady Agnes

Viel Zeit braucht muss nicht für den Besuch einplanen, aber hinein sollte man auf jeden Fall. Im Hangar gibt es Kaffee und Kuchen (man sitzt auf Flugzeug-Kabinensitzen), und eine Ausstellung über die Uniformen der Flugbegleiter. Und ein im Interflug-Dekor lackiertes DDR-Moped - herrlich!

Pilotenkanzel der Lady Agnes - vorne links saß der Luftakrobat Heinz-Dieter Kallbach
Pilotenkanzel der Lady Agnes - vorne links saß der Luftakrobat Heinz-Dieter Kallbach

Interflug-Reisefieber in der Lady Anes in Stölln
Interflug-Reisefieber in der Lady Anes in Stölln

Wir fliegen nach Zagreb, Schatz! - Deko in der Kabine der Lady Agnes
Wir fliegen nach Zagreb, Schatz! - Deko in der Kabine der Lady Agnes

Standesamt in der Lady Agnes - vorbereitet für das nächste Ja-Wort
Standesamt in der Lady Agnes - vorbereitet für das nächste Ja-Wort

DDR Servierwagen mit Brause und Goldtröpfchen
DDR Servierwagen mit Brause und Goldtröpfchen

Interflug-Moped in Hangar Stölln
Interflug-Moped in Hangar Stölln

Restaurant Adrijano

Neben dem Flugplatz liegt das Restarurant Adrijano mit großem Terrassen/Gartenbereich. Da ich nichts zu Mittag gegessen habe, will ich noch schnell einen Kuchen essen. “3,20 € für Orangenkuchen und Kaffee” steht auf dem Schild. Ich bekomme einen toll dekorierten Teller mit leckerem Kuchen und fruchtigen Toppings, dazu italienischen Macchinato.

Wie geht das für 3,20 €? Ich gebe 5,- €, was immer noch zu wenig ist. Das ganze Jahr haben sie auf, jeden Tag. Im Winter ist wenig los, in den Sommerferien bricht es aus allen Nähten, sagt mir der Kellner zum Abschied. Hoffentlich können sie davon leben.

Lilienthal-Museum

Eigentlich will ich jetzt gleich auf den Gollenberg wandern, aber das Lilienthal-Museum im Ortszentrum schließt schon um 17:00. Also erst Museum, dann noch mal hierhin zurück.

Das Museum ist in einer ehemaligen Brennerei, ich bin der einzige Besucher. Vor dem Museum steht ein fotogener Agrarflieger, den ich auf meinen Radtouren schon häufig gesehen hab.

Agrarflieger vor dem Lilienthal-Museum in Stölln
Agrarflieger vor dem Lilienthal-Museum in Stölln

In einer großen Halle hängen die Gleitflugzeuge von Otto Lilienthal, und an einem hängt auch eine Puppe zur Demonstration. Absolut beeindruckend! An einem aus Weidenruten, Baumwolle und Klavierseiten gebauten Apparat sich von einem Berg zu stürzen, wo jedes Konstruktions/Materialproblem und jeder Bedienfehler den Tod bedeuten kann, beeindruckt mich zutiefst. Wie muss das erst zu jener Zeit gewesen sein, wo sich noch nie ein Mensch in die Luft erhoben hat? In der Halle finden sich zudem Dokumentationen zur Geschichte der Fliegerei. Ich lese mir ein paar durch, dann zurück zum Infoschalter, wo ich dem Mann am Tresen meine Faszination für die Apparate mitteile. Der wiederum lässt sich nicht lange bitten, und die restliche Stunde führt er mich durch die anderen Ausstellungsbereiche, wo er mich mit seiner Begeisterung für Lilienthal und Stölln restlos infiziert:

  • 25 Jahre studierte Otto Lilienthal den Vogelflug, bis er seine Erfahrungen in seinem epochalem Buch “Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst” niederschrieb. In viele Sprachen übersetzt wird es heute immer noch gedruckt.
  • Die von Lilienthal entwickelten Strömungskonzepte finden heute immer noch Anwendung
  • Die Brüder Otto und Gustav Lilienthal waren vielseitig interessiert - sie entwickelten das Baukaustensystem, das später als Ankerbaukausten in Rudolstädt/Thüringen erfolgreich wurde. Das heutige Lego ist Nachkomme dieses Systems. Auch die Stabilbaukästen gehen auf Lilienthal zurück.
  • Als eine der ersten Unternehmer führten die Lilienthals zudem die Mitarbeiterbeteiligung ein - 25% des Gewinns wurde an die Mitarbeiter ausgeschüttet.
  • Und zudem war Otto Lilienthal auch Schauspieler und gründete in Berlin ein Theater, aus dem die heutige Freie Volksbühne hervorging.

Lilienthals epochales Buch 'Der Vogelflug als Grundlage der Fliegerei'
Lilienthals epochales Buch 'Der Vogelflug als Grundlage der Fliegerei'

Spannend ist auch der einem Hubschrauberrotor ähnelnde Messapparat, mit dem Otto Lilienthal die Auftriebskräfte unterschiedlicher Flügelformen messen, vergleichen und optimieren konnte.

Da mein persönlicher Lehrer zudem aus Stölln kommt, frage ich ihn noch, ob Stölln eigentlich erst durch Lilienthal so bedeutend wurde. “Iwo”, sagt er. Stölln liegt ja auf einem Ländchen / Landrücken inmitten von früher unzugänglichen Moor- und Feuchtgebieten. 500 Jahre lang war das Adelsgeschlecht der von Hagens hier ansässig, und einige der Gebäude zeugen noch vom Glanz vergangener Tage. Direkt neben dem Museum / der alten Brennerei befinden sich Gebäude der ehemaligen Gutsanlage; hinter diesen verläuft übrigens ein Lehrpfad entlang der angrenzenden Felder und durch den alten Gutspark.

So, nun ist es 17:00 mein netter Ratgeber hat sich seinen Feierabend verdient. Ohne den Einsatz der Mitglieder des Vereins Otto Lilienthal würde das tolle Angebot hier sicher nicht den Glanz haben - im wahrsten Sinne Wortes. Nächste Woche wird der Verein wieder die Lady Agnes reinigen, dann muss in luftiger Höhe die Außenhaut des Flugzeugs gewaschen werden.

“Ist eigentlich Stölln auch der erste Flugplatz der Welt?” frage ich noch zum Abschluss. Nein - der liegt in Derwitz, südlich der Havel zwischen Groß-Kreutz und Werder. Auch in Berlin - wo Lilienthal wohnte - gibt es einen kleinen Hügel (den “Fliegeberg”), den Lilienthal aus den Resten einer Ziegelei aufschütten ließ. Aber hier am Gollenberg hatte er die besten Bedingungen.

Halsbrecherisch - die Flugapparate von Lilienthal im Museum Stölln
Halsbrecherisch - die Flugapparate von Lilienthal im Museum Stölln

Nostaglie vor dem ehemaligen Gutshaus Stölln
Nostaglie vor dem ehemaligen Gutshaus Stölln

Gollenberg

So, nun gehts rauf auf den Gollenberg, von dem sich Lilienthal hinunterstürzte, bis es schließlich nicht gut ging und er abstürzte. Mit einer Fraktur des 3.ten Halswirbels wurde er in das Gasthaus Stölln gebracht. Sein Bruder veranlasste dann, dass er tags darauf mit der Kutsche nach Wittstock/Dosse gebracht wurde, um mit dem Zug ins Krankenhaus nach Berlin zu kommen, wo er aber verstarb.

Der Gollenberg liegt direkt hinter der Wiese bei der Agnes, und mit einem Spaziergang von 700 Metern Länge (und ein paar Metern Höhe) ist man nach 15-20 Minuten auf dem Gipfel. Ich bin schon auf ein paar Hügeln/Bergen in Havelland gewesen, der Gollenberg ist mit 109 Metern nicht nur der höchste, sondern auch der lohnenswerteste. der Weg bietet an vielen Stellen Sitzgelegenheiten und beeindruckende, weil ungewohnte Perspektiven auf das Land ringsherum.

Oben findet sich dann noch eine schöne Skulptur, die Windharfe. Sie stellt Lilienthal dar, und die gespannten Drähte sollen wohl bei Wind anfangen zu singen.

Ich gehe den Weg zurück wie ich gekommen bin, durch blühenden und duftenden Flieder.

Lilienthaldenkmal auf dem Gollenberg - die Windharfe
Lilienthaldenkmal auf dem Gollenberg - die Windharfe

Lilienthaldenkmal auf dem Gollenberg - Blick nach Norden is das flache Rhinluch
Lilienthaldenkmal auf dem Gollenberg - Blick nach Norden is das flache Rhinluch

Blick vom Gollenberg nach Westen
Blick vom Gollenberg nach Westen

Gartenbahn

Auf dem Weg zum Auto komme ich an einer Garten vorbei, wo mehrere selbstgebaute Lokomotiven auf Gleisanlagen stehen - eine Miniaturgartenbahn, wobei die einzelnen Züge schon recht groß sind (ca 1 Meter Länge). Als dann ein Auto in das Grundstück reinfährt, frage ich den Fahrer, ob ich fotografieren darf.

Ob ich aus dem Rheinland sei, fragt er mich zunächst - er sei von dort und er hört den Klang der Heimat in meiner Stimme. Nein, ich bin in Berlin aufgewachsen, aber irgendwie hat mir wohl der rheinische Dialekt meiner Frau das Berlinern ausgetrieben. Nachdem wir feststellen, dass er und meine Frau aus Nachbardörfern stammen, ist das Eis gebrochen.

Es entwickelt sich ein nettes Gespräch und ich darf in den Garten, mir die Sachen anschauen und fotografieren. Geschaffen wurde die Anlage von einem leidenschaftlichen Hobby-Schlosser; nun muss sie eigentlich komplett saniert werden. Es gibt eine Seeanlage, Bahnhöfe und auch die 10 Meter hohe Nachbildung des Berliner Fernsehturms.

Als ich dann am Abend meiner Frau die Fotos zeige und die Erlebnisse und Begegnungen schildere, fangen auch ihre Augen an zu leuchten. Das nächste Mal kommt sie bestimmt mit.

10 Meter hohe Nachbildung bei der privaten Gartenbahn in Stölln
10 Meter hohe Nachbildung bei der privaten Gartenbahn in Stölln

ICE Nachbildung auf der privaten Gartenbahn Stölln
ICE Nachbildung auf der privaten Gartenbahn Stölln

Russische Lok auf der privaten Gartenbahn Stölln
Russische Lok auf der privaten Gartenbahn Stölln

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