Auf der Suche nach dem digitalen Vintage-Look - mit einer 18 Jahre alten digitalen Kompaktkamera

Wenn man die aktuellen Trends der Fotografie verfolgt, so stellt man fest dass seit einiger Zeit ein Trend zum Vintage Look vorherrscht. Das mag daran liegen, dass die Kameras immer intelligenter werden und dem Fotografen die Arbeit abnehmen, und dass die irritierende Frage entsteht, wer denn nun der Urheber des Fotos ist - die Kamera oder derjenige, der auf den Auslöser drückt.

Vintage Analog Ästhetik

Während die Kamerahersteller seit je her versuchen, alle Unzulänglichkeiten der Optik und Bildverarbeitung auszumerzen (als da wären: Gegenlichtempfindlichkeiten wie Flares und Ghosting, Unschärfe, geringer Dynamikumfang, Auflösung, Swirl, Bildfeldwölbung), so sind genau diese Unzulänglichkeiten früher auch Gestaltungselemente gewesen.

Nun fotografieren die einen wieder oder erstmalig analog, und die anderen arbeiten sich in Presets ein, um ihren Bildern den Charme vergangener Zeiten zu verpassen und den Verlust von Authentizität zu kompensieren. Oder kaufen sich alte Objektive (“Altglas”) für ihre Vollformat-Digitalkameras. Die analogen Kameras erfreuen sich seit ein paar Jahren stark steigender Nachfrage; während man eine Leica M6 vor ein paar Jahren für 1000,-€ bekam, zahlt man jetzt 2000€-3000€.

Hersteller wie Meyer-Optik Görlitz profitieren davon, der Look ihrer miserabel gegen Innenreflektionen geschützten Trioplan Linsen erzeugt unnachahmliche Bokeh-Bubbles. Die Trioplans lassen sich auch neu kaufen, für rund 1000€ wohlgemerkt.

Die Spannbreite von Software–Vintagizern ist breit: am Smartphone gibt es bereits vordefinierte Filter, in Lightroom ebenfalls. Wer nachhelfen will, kann über Schärfe/Klarheit, Kontrast, Korn, Farbtemperatur individuell nachhelfen. Oder man greift ins Wallet und kauft dem einen oder anderen YouTubler seine Presets ab.

Die Kombinatorik aller Optionen lässt die Möglichkeiten explodieren, und nicht alles, was da entsteht, ist auch Vintage. Vieles ist einfach scheußlich.

Die digitale Gründerzeit liegt nun rund 20 Jahre zurück. Was ist eigentlich mit den Kameras aus den Anfangstagen der Digitalära? Haben diese nicht auch einen speziellen Look? Ich hab meine alte Canon PowerShot G3 aus dem Jahr 2002 aus dem Schrank geholt, bin fotografieren und auf die Suche nach dem *Digitalgründerzeitlook" gegangen.

Canon PowerShot G3

Canon Powershot G3, Vorderseite
Canon Powershot G3, Vorderseite

Canon Powershot G3, Oberseite
Canon Powershot G3, Oberseite

Canon Powershot G3, Rückseite
Canon Powershot G3, Rückseite

Die Kamera hat 7.2-28.8 Zoom mit Lichtstärke 2.0-3.0.

Kamera Film/Sensorgröße Crop Brennweite Bokeh-Blende
Canon G3 5,3 x 7,1 mm 4,87 7,2mm - 28,8mm 2.0-3.0
Vollformat 24 x 36 mm 1 35mm - 140mm 9,7 - 14,6

Oh, wow - das Bokeh entspricht Blende 9,7. Bokeh-Crema sucht man vergeblich. Immerhin gibt es einen ND-Filter, eine Belichtungskorrektur und speichert die Fotos wahlweise im RAW oder Jpeg Format ab - letzteres mit verschiedenen Bildstilen (Neutral, Vivid , Sepia, Black&White)

Das Mini Display - klapp- und schwenkbar - taugt nur als grobe Ansicht. Bei Sonnenlicht ist es unbrauchbar, da greift man dann lieber auf den Sucher zurück.

RAW aus der Kamera

Beim ersten Spaziergang hab ich RAW Fotos gemacht (Format CR2); dazu hab ich ein Lightroom Preset passend zum heutigen Tag (leicht bewölkt) und dem gewünschten Stil (Kodachrome-like) gebaut.

Aufgefallen ist mir dabei, dass trotz des kleinen Sensors und der geringen Pixel (4 Megapixel) sich Bilder in Bildschirmgröße erstellen lassen, die keine technischen Schwächen haben. Dynamikreserven gibt es zwar nur sehr wenig , aber mit etwas Schattenaufhellen sowie Anpassung von Kontrast und Farbstimmung gefallen die Bilder mir gut. Deutlich zu sehen war eine tonnenförmige Verzeichnung, die ich ebenfalls korrigiert habe.

In den vergangangenen 19 Jahren hat sich halt die externe Bildbearbeitung am Computer deutlich weiterentwickelt, und das merkt man auch bei der RAW Bearbeitung. Haben diese Bilder eine spezielle Vintage-Digital-Ästhetik? Vom Objektiv her nicht, das ist zwar scharfzeichnend, ober ohne Bokeh. In einem Blindtest feststellen, mit welcher Kamera ich diese Bilder aufnahm, das könnte ich nicht.

RAW Foto 1: Lindengrundschule in Staaken
RAW Foto 1: Lindengrundschule in Staaken

RAW Foto 2: Lindengrundschule in Staaken
RAW Foto 2: Lindengrundschule in Staaken

RAW Foto 3: Lindengrundschule in Staaken
RAW Foto 3: Lindengrundschule in Staaken

Im Gegenlich die Mohnblume zu fotografieren war nicht einfach. Zwar hat die Kamera ein Klappdisplay, aber auf diesem erkennt man kaum etwas.

RAW Foto 4: Mohnblume im Gegenlicht
RAW Foto 4: Mohnblume im Gegenlicht

RAW Foto 5: Milli im Feld
RAW Foto 5: Milli im Feld

RAW Foto 6: Schrebergarten mit Haus
RAW Foto 6: Schrebergarten mit Haus

RAW Foto 7: Bokehtest; Schild einer Gartenparzelle
RAW Foto 7: Bokehtest; Schild einer Gartenparzelle

RAW Foto 8: Fußball-Tor auf Sportplatz in Staaken
RAW Foto 8: Fußball-Tor auf Sportplatz in Staaken

Jpegs aus der Kamera

Bis vor ein paar Jahren hat jeder, der etwas auf sich hielt, in Raw fotografiert. Dabei sind die Jpegs aus der Kamera gerade das Besondere - denn wenn eine Kamera neben den Specs noch einen eigenen Charakter haben will, dann eben über die Bilder, die unverfälscht aus der Kamera kommen. Nunja, unverfälscht ist hier nicht ganz treffend, denn die Jpegs sind immer die Interpretation der Sensor-Rohdaten, und zwar in der Art , wie der Kamerahersteller es designt hat.

Bei meinem zweiten Spaziergang hab ich also Jpegs geschossen. Der Himmel war stärker bewölkt; Weißabgleich hab ich auf Auto gestellt. Auffallen tut hierbei, dass die Fotos kontrastarm und flach wirken. Im Gegensatz zu den optimierten Bildern, die heute aus jedem Smartphone kommen, wirkt das auf mich auf den ersten Blick langweilig, auf den zweiten aber auch sanft und reizvoll.

Jpeg Bildstil Neutral

Zunächst ein paar Bilder im Bildstil Neutral:

Jpeg Foto 1: Kleine Sternwarte auf dem Hahneberg
Jpeg Foto 1: Kleine Sternwarte auf dem Hahneberg

Jpeg Foto 2: Blick vom Hahneberg zur Louise-Schröder-Siedlung
Jpeg Foto 2: Blick vom Hahneberg zur Louise-Schröder-Siedlung

Jpeg Foto 3: die Fußgängerbrücke über die Heerstraße
Jpeg Foto 3: die Fußgängerbrücke über die Heerstraße

Jpeg Bildstil Vivid

Mit dem Bildstil Vivid/Kräftig wird die Sättigung angehoben. Bei dem leicht wolkigen Wetter passte das auch ganz gut . Positiv überrascht hat mich die Gründarstellung, die für mein Empfinden zwar etwas zu gesättigt ist, aber nicht wie befürchtet ins Giftige abrutscht.

Jpeg Foto 4: Felder hinter dem Hahneberg
Jpeg Foto 4: Felder hinter dem Hahneberg

Jpeg Foto 5: Birkenhain am Hahneberg
Jpeg Foto 5: Birkenhain am Hahneberg

Das letzte Bild zeigt die Schwächen des Zoomobjektivs. In Telestellung wird es extrem flau, da vermag auch kein “Vivid” mehr Leben einhauchen.

Jpeg Foto 5: Blick vom Hahneberg zur Lousie-Schröder-Siedlung
Jpeg Foto 5: Blick vom Hahneberg zur Lousie-Schröder-Siedlung

Bildstil Schwarz-Weiß

Die Schwarz-Weiß Jpegs sind für meine Begriffe zu flau. Ich hab ohne das es nötig war die ISO auf 200 hochgesetzt, um ein Dikgitalkorn zu provozieren; das gab dann tatsächlich etwas Vintage Touch.

Schwarz-Weiß Foto: Blüte
Schwarz-Weiß Foto: Blüte

Man wächst mit den Aufgaben

Mit der alten Knipse loszuziehen ist eine kleine Challenge. Wenn man sich Mühe gibt, bekommt man vernünftige Ergebnisse. Allerdings muss man sich wirklich Mühe geben: Viele Fotos sind usncharf, der Dynamikumfang ist sehr gering; fehlbelichtete Bilder lassen sich kaum retten. Das Digitalkorn hat seinen Charme, und die Jpeg Farben auch. Wenn man den RAWs einen Vintage-Look verpasst, ist es eh egal, ob die Fotos mit einer Vollformatkamera oder einer knapp 20 Jahre alten Kompatknipse gemacht werden.

Dauerhaft dabeihaben möchte ich die Kamera aber nicht. Das Objektiv lässt keine kreative Unschärfe/Bokeh zu, und als Point-and-Shoot hat der Autofocus einfach zu viele Macken.

Weitere Beiträge zum Thema