In Gedanken an West-Berlin, in Memoriam Norbert

Bahnhof Zoo

Im November 1978 machte ich mich mit meinem Fotoapparat und einem lichtempfindlichen Farbfilm auf den Weg zum Bahnhof Zoo – für eine Fotosession. Sehr lange haben die Negative in meinen Archiven geschlummert.

1978 war Deutschland geteilt, und West-Berlin eine Insel in der DDR. Bahnhof Zoo war der einzige Fernbahnhof in West‑Berlin. Wer hier in einen D‑Zug einstieg, fuhr in der Regel nach Westdeutschland, in die Bundesrepublik – oder kam von dort her. Der Bahnhof war damit das Tor der Stadt nach außen.

In den 1970er und 80er Jahren allerdings war der Bahnhof Zoo – besonders die Rückseite an der Jebensstraße – auch bekannt für seine Drogen‑ und Stricherszene. Das aufrüttelnde Buch Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, das 1978 im Magazin Stern erschien und wenig später als Buch veröffentlicht wurde, erzählte von der gerade mal 13-jährigen Christiane F. und ihrem Leben in dieser Szene.

In Memoriam Norbert Wendling, in Gedanken an West-Berlin

Es hat seinen Grund, dass ich in alten Fotos blättere. Der Anlass ist der plötzliche Tod von Norbert – einem Bekannten, eigentlich einem mir Unbekannten, denn getroffen habe ich ihn nie. Er war der Freund einer Freundin, litt lange unter gesundheitlichen Problemen und starb dann sehr plötzlich.

Und auch wenn ich ihm nie persönlich begegnet bin, beschäftigt uns sein Leben sehr. Norbert war Journalist, Mitbegründer des Stadtmagazins Zitty, und hat die West-Berliner Kulturszene über Jahre hinweg mit Texten und Fotografien begleitet.

Über die Wege seines Lebens, das ich nun erst kennenlerne, finde ich auch zurück zu meinen eigenen Wurzeln – in das West-Berlin der 70er und 80er Jahre. In diese – nach heutigen Maßstäben – gar nicht so große Stadt, mit Weddinger Schnauze, bürgerlicher Piefigkeit und den anarchischen Lebensentwürfen der Kreuzberger Hausbesetzer- und Ökologiebewegung.

Ich gehörte zu all dem – und zu keinem davon. Ich lebte mit meinen Eltern zunächst in Charlottenburg, dann im Wedding, später in Kreuzberg. Als die Mauer fiel, war es mit dem West-Berlin vorbei, dieser eigentümlichen Pflanze. Wir Berliner wohnten nun in einer richtigen Großstadt, mitten in Europa, im politischen Europa, in einer Hauptstadt – und waren dem Tempo gesellschaftlicher Veränderung schutzlos ausgesetzt.

Als wir vor gut 20 Jahren mit unserer jungen Familie aus der Innenstadt an den Stadtrand zogen, nach Spandau, diskreditierte uns das in den Augen mancher Bekannter, deren Kreuzberger Haftcreme beständiger war als unsere. Ausgerechnet Spandau – das sowieso nie so recht zu Berlin, respektive West-Berlin, gehören sollte oder wollte.

Mittlerweile fühle ich mich eher als Havelländer denn als Spandauer oder Berliner – und schon gar nicht mehr als West-Berliner. Und doch: Mit dem Tod unseres unbekannten Bekannten, der im Herzen immer ein West-Berliner geblieben war, ist die Tür in die Vergangenheit noch einmal weit aufgegangen. Und ich versuche, die Gedanken zu greifen, was war, was wurde, was blieb – und was verschwand.

Gedanken über die notwendige Respektlosigkeit der Jugend, den Anspruch, dass diese Welt unsere sein sollte – und dass wir sie so gestalten müssen, dass sie unsere wird. Über die Punks am Kudamm, die dunklen Winkel der Mauer, die Stricher am Bahnhof Zoo, die besetzten Häuser, die schwarzen Hände vom Schleppen der Kohle in die Weddinger Hinterhofwohnungen, die langen Nächte im Café Anfall.

Das posthume Kennenlernen von Norbert, der einst so verwurzelt war in der Szene, der Joop, Nico und Christiane F. interviewte, dessen gallisches Dorf zusammen mit der DDR unterging, wird ein Nachdenken über die Pfade, die uns durchs Leben führen. Wie uns die Zeit verändert, und wo wir uns den Anpassungen widersetzen. Wie sich im Kreis der engen Freunde die Reihen lichten. Und was das ist, das uns instinktiv zu Geschwistern macht, wenn wir in den prägenden Jahren der Jugend dieselben Hoffnungen und Erfahrungen geteilt haben – egal ob wir Freunde, Bekannte oder eben Unbekannte waren.

Ich habe viele Fotobücher von ostdeutschen Fotografen in meinem Regal. Sie haben mich immer interessiert – wegen der anderen Welt, ihrer Brüche und Widersprüche. Weil die ehemalige DDR heute gleich hinter unserem Gartenzaun liegt, und weil ich in den vergangenen 35 Jahren öfter dort war als anderswo sonst. Weil ich hoffe, über diese Fotos die Lebensläufe und Haltungen der Leute „von drüben“ besser zu verstehen.

Mit den Gesprächen über Norbert – und eben auch über die Fotos, die ich nun bei mir gefunden habe – entdecke ich ein Stück meiner eigenen Geschichte wieder.

Norbert Wendling, 23. Dezember 1951 – 27. Oktober 2025

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