Vilém Flusser und die fotografische Freiheit.

Wenn man nach dem Suchbegriff “Philosophie der Fotografie” googelt, stößt man auf zahlreiche Beiträge, die das Wesen der Fotografie und ihre Rolle in unserem Leben untersuchen. Mit etwas Glück taucht auch der Name Vilém Flusser in der Trefferliste auf. Ich bin zufällig auf Flusser gestoßen und habe mich in den letzten Wochen immer wieder mit seinen Thesen beschäftigt.

Der Medienphilosoph Vilém Flusser, 1920 in Prag geboren und einer der wenigen Überlebenden seiner Familie nach dem Holocaust, beschäftigte sich intensiv mit der Frage, wie Medien unsere Wahrnehmung und unser Denken prägen. Ihn interessierten insbesondere die Freiräume und Begrenzungen, die uns durch technische Apparate gesetzt sind – also im Grunde erkenntnistheoretische Fragen. In den 1980er-Jahren wandte er sich der Fotografie zu. Er starb 1991 bei einem Autounfall, lange vor der Digitalisierung der Fotografie.

Flusser beobachtete und analysierte die Mechanismen von Medien und wie diese unsere Sicht der Welt strukturieren. Es sind vor allem zwei Gedankengänge Flussers, die mich besonders faszinieren und meine Haltung zur Fotografie neu fundiert haben: Zum einen die zutiefst philosophische Frage, was Realität eigentlich ist – und welche Rolle Medien bei ihrer Konstruktion spielen. Zum anderen die Frage, inwieweit Kameras, Apparate, ihre Technik und ihre Programme uns kreative Freiräume eröffnen oder uns im Gegenteil zu reinen Bedienern degradieren.

Diese beiden Gedanken führen mich schließlich zu einem dritten Thema: den Mechanismen der Resonanz – also dem, was passiert, wenn uns ein Foto wirklich berührt. Dieser Begriff stammt nicht von Flusser selbst, sondern ist mein eigener Versuch, seine Überlegungen zur Rolle der Apparate und zur Konstruktion von Wirklichkeit um eine psychologische Perspektive zu erweitern.

Die mediale Wirklichkeit

Wir sehen die Welt nicht unmittelbar – das ist eine zentrale Erkenntnis Flussers. Wir konstruieren in unserem Bewusstsein Modelle der Realität. Fotografieren und Betrachten von Bildern bedeutet, solche Konzepte der Wirklichkeit zu erschaffen. Die Fotografie wird damit zu einem Teil unserer erlebten, innerlich verankerten Wirklichkeit.

Das ist eine Aussage von vor 40 Jahren, lange vor der Digitalisierung der Medien. Wenn wir die heutige Welt betrachten, stellen wir fest, dass ein Großteil der Wahrnehmung über Handys und Bildschirme erfolgt – gespeist von einem endlosen Strom von Bildern. Die Wirklichkeit wird dabei ikonifiziert; Städte, Landschaften, Cafés existieren in unserem Bewusstsein als Abbild von Posts, die zu Typen, zu Ikonen geworden sind. Mehr noch: Den Nachweis, einen solchen Ort tatsächlich besucht zu haben, erbringen wir, indem wir genau diese ikonischen Fotos reproduzieren.

Wir sind Bausteine, Zahnräder in diesem Getriebe: Als Konsumenten bepreisen wir den Wert von Bildern mit unseren Likes, als Produzenten erstellen wir Fotos in genau jenen Bildstilen, die maximale Aufmerksamkeit versprechen. Unser Geltungsbedürfnis und die Technik der Apparate arbeiten dabei Hand in Hand.

Benutzen wir die Apparate – oder umgekehrt?

Das bringt uns zu Punkt 2 von Flusser – der Frage, ob wir die Apparate benutzen oder umgekehrt.

Als Fotograf benutzen wir Apparate – Flusser meint damit nicht nur Kameras, sondern verallgemeinert jede technische Vorrichtung – um Bilder zu erstellen. Aber sind wir tatsächlich Benutzer dieser Apparate? Oder benutzen sie uns, indem sie unseren Handlungsrahmen definieren?

Nach Flusser bewegen wir uns innerhalb der Programme der Apparate. Auch “Programm” meint nicht exakt Software im heutigen Sinne, sondern steht für die Summe der Regeln und Möglichkeiten, die das Gerät vorgibt. Unsere scheinbare kreative Freiheit ist oft ein vordefinierter Spielraum, in dem wir uns frei wähnen – wie ein Spielbrett mit festen Feldern.

Wie weitreichend Flussers Begriff des Programms gedacht ist, zeigt sich daran, dass auch unsere innere Anpassung an die Logik der Verwertung Teil dieses Programms sein kann. Wenn wir fotografieren, haben wir oft schon die spätere Verwertung im Kopf: Was funktioniert auf Instagram? Was erzeugt Reichweite? Solche Überlegungen beeinflussen unser fotografisches Handeln bereits vor dem eigentlichen Akt des Fotografierens.

Die Technik der Apparate liefert uns dabei das handwerkliche Rüstzeug, um Fotos mit maximierter Aufmerksamkeit zu produzieren: Die Color-Science der Sensoren sorgt für ansprechende Farben, der hohe Dynamikumfang hellt Schatten auf und produziert HDRs, und die KI optimiert Portraits, verbessert Details und lässt Unerwünschtes verschwinden. Die so produzierten Bilder funktionieren beim Betrachter. Sie formen unser ästhetisches Empfinden und unsere Erwartung an “gute” Bilder. Ich habe neulich ein Leica-Magazin von vor 25 Jahren durchgeblättert – und war überrascht, wie schlecht die Fotos darin auf mich wirkten. Hab ich wirklich “schlecht” gesagt? Die Bilder haben mich einfach nicht angesprochen. Nicht mehr. In der Zeit der medialen Völlerei, des Überflusses fehlte ihnen das “Glutamat” – jener visuelle Reizverstärker, an den wir uns in der heutigen Bildwelt so sehr gewöhnt haben.

Das regt zum Nachdenken an, wie wir in den letzten zehn Jahren konditioniert wurden, als Konsument und Produzent von Bildern. Es ist wirklich erstaunlich, wie treffend Flussers Beobachtungen die heutige Zeit beschreiben.

Die Feststellung, dass wir nicht frei die Apparate bedienen, widerspricht unserem Anspruch an eine Kunstform, in der wir uns frei ausdrücken können, wo allein die Intensität unserer kreativen Eruptionen die Grenzen des Schaffens festlegt. Aber diese Freiheit haben wir nicht per se - wir sind Teil des Apparates, wir bedienen und werden bedient.

Ein Ausweg aus diesem Dilemma hat Flusser ebenfalls parat: Wir müssen uns der Regeln und Grenzen der Apparate bewusst werden – und gezielt gegen diese Regeln spielen. Bewusst verwackelte oder unscharfe Bilder, Doppelbelichtungen, Schwarzweiß oder analoge Fotografie. Die Regelverletzung belohnt uns mit Bildern, die sich gegen die einprogrammierte Ästhetik und gegen die Erwartungshaltung der Plattformen richten – und vielleicht gerade dadurch Aufmerksamkeit erzeugen.

Resonanz und Authentizität

Was ist das eigentlich – Aufmerksamkeit? Wann bleiben wir bei einem Foto hängen? Wann entsteht eine emotionale Resonanz, bei der wir durch den Anblick eines Fotos stimuliert werden?

Ich möchte das mit einem persönlichen Beispiel beantworten. Als ich einen Schwarzweiß-Film unseres Urlaubs entwickelte und meiner Frau ein paar Fotos zeigte, meinte ich, dass ich noch den Staub entfernen müsse. Sie hielt mich aber davon ab. So wie sie sind, seien sie authentisch, sagte sie.

Das ist bemerkenswert – mein Schwarzweiß-Foto, körnig und mit Staubflecken, wirkte authentischer als die klaren und detailreichen Bilder, die wir vom selben Motiv mit dem iPhone aufgenommen haben.

Warum? Weil es eine emotionale Resonanz herstellte.

“Authentisch” ist ein emotionaler Träger. Authentizität bedeutet nicht “echt”, sondern berührend, könnte man sagen. Vielleicht liegen die beiden Begriffe auch gar nicht so weit auseinander – denn was ist denn “echt”, was ist Wirklichkeit anderes als ein in unserem Bewusstsein konstruiertes Modell der Welt? Individuell wie jeder Betrachter, durchsetzt mit Glück und Schmerzerfahrungen, wie eine Minesweeper-Welt, deren Felder Erinnerungstrigger zünden – an Kindheit, Fotoalben, Geburtstage, Familienfeste.

Ein Bild wirkt, wenn es uns Räume für unsere persönliche Resonanz gibt.

Freiräume

Die analoge Fotografie eignet sich ganz wunderbar für das Spiel gegen die Regeln – und sie belohnt bisweilen auch mit Resonanz beim Betrachter. Aber ist das nicht einfach nur nostalgisches Erinnern, eine Freude an einem anderen Geschmacksmuster?

Und ist es nicht ein bisschen billig, sich als fotografischer Anarchist, als Flusser-Aktivist zu fühlen, nur weil man auf Film fotografiert? Denn auch beim Fotografieren auf Film bewegen wir uns in einer Welt von Flusser-Apparaten und Programmen. Vielleicht sollten wir uns auch dort etwas mehr Mühe geben – und gezielter gegen die Regeln spielen.

Aber selbst ohne das bewusste Brechen von Regeln trägt die analoge Technik bereits eine gewisse Widerständigkeit in sich. Die analoge Welt macht es einfacher, gegen die heutige Präzision und Perfektion zu opponieren – und das hat, meiner Meinung nach, etwas mit Freiräumen und der Resonanz zu tun.

Die Frage ist nämlich: Welche Eigenschaften muss ein Bild haben, damit sich verschiedene Betrachter emotional angesprochen werden? Klar, da gibt es das Handwerkszeug der Gestaltung: Drittelregel, Goldener Schnitt, Führungslinien, Kontraste.

Oder fragen wir andersherum - welche Eigenschaften hat ein Bild, wenn es keine Resonanz erzeugt? Das ist ein beliebter Trick aus der mathematischen Logik: Wenn Du bei einer Fragestellung nicht weiterkommst, drehe die Aussage um und betrachte das Gegenteil. Willst Du Licht verstehen, schau den Schatten an.

In der Kunsttheorie gibt es dazu einen hilfreichen Ansatz: Wenn zu viele Informationen im Bild enthalten sind, wird das Potenzial für emotionale Tiefe eingeschränkt – weil es kaum Raum für unsere innere Konstruktion gibt. Superscharfe Fotos mit allen Details, hoher Dynamikumfang, Durchzeichnung von den hellsten Wolken bis zu den dunkelsten Schatten – wo bleibt der Platz für die Fantasie, die unsere emotionalen Trigger zündet?

Das bewusste Weglassen oder Nicht‑vollständige Abbilden dagegen erzeugt Raum zur Imagination – und damit emotionale Beteiligung.

Im japanischen Ästhetikverständnis gibt es ein Konzept, das sich nur schwer in westliche Begriffe übersetzen lässt: Ma (間). Wörtlich bedeutet es „Zwischenraum“, doch gemeint ist weit mehr als die bloße Lücke zwischen zwei Formen. Ma beschreibt einen bewussten, bedeutungsvollen Raum – nicht leer, sondern voll von Atmosphäre, Rhythmus und Spannung. Er ist der visuelle Atem eines Bildes.

In der Fotografie können solche Zwischenräume entstehen, wenn wir gezielt mit Unschärfe, Auslassung oder Überbelichtung arbeiten – zum Beispiel, wenn ein heller Himmel nicht mehr Zeichnung zeigt, sondern als weiße Fläche wirkt. Genau dieser „leere“ Raum lädt zum Deuten ein.

Kameras mit beschränktem Dynamikumfang oder alten Objektiven mit Unschärfe tragen dazu bei, solche Räume zu öffnen. Sie erzeugen Abstraktion – und damit Verbindung.

Sie öffnen Räume, in denen sich persönliche Erinnerung und Empfindung entfalten können – leere Flächen, die unser Bewusstsein mit Bedeutung füllt. Es sind diese Zwischenräume, in denen sich das individuell konstruierte Bild der Welt neu verknüpft.

Lasst uns mehr Flussern

Wenn man einem Aquarellisten zuschaut, ist es großartig zu sehen, wie aus ein paar Kleksen und Farbverläufen Wolken und Strände werden, und ein paar Striche genügen, um Spaziergänger herbeizuzaubern. Mein Vater hatte das Talent der Aquarellmalerei, und er sagte mir einmal: “Die Kunst besteht darin, im richtigen Moment aufzuhören. Der Rest passiert im Kopf des Betrachters.”

So ist es auch mit der Fotografie: Nicht das Sichtbare bleibt, sondern das, was im Kopf weiterlebt.

Womit ich nun am Ende meiner Überlegungen angekommen bin. Ob nun analoge Fotografie ein Flussersches Spiel gegen die Regeln ist, oder einfach nur ein analoger Flusser – ist eigentlich egal.

Fotos brauchen Platz zum Träumen.

Lasst uns mehr flussern.

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