Eine neue alte Linse - ein Reissue des legendären Biotar von TTArtisan

Das Biotar ist ein Objektiv, das wegen seines besonderen Looks so begehrt ist, dass Sammler Tausende von Euro für eine Linse zahlen, die über 60 Jahre alt ist. Offenblendig genutzt beeindruckt es mit einem scharfen Zentrum und einem Hintergrund, der kreisförmig verwirbelt (“Swirl-Bokeh”). Ähnliche Effekte habe ich auch bei anderen alten Objektiven gefunden, wenn auch weniger ausgeprägt – wie beim E. Ludwig Meritar, das aufgrund geringerer Lichtstärke nur mäßigen Wirbel erzeugt.

TTArtisan 75mm f/1.5

Nun hat der chinesische Hersteller TTArtisan ein Objektiv herausgebracht, das sich am legendären Biotar orientiert. Ich konnte nicht widerstehen, es zu bestellen – und bin begeistert.

TTArtisan und die Firma 7Artisans gehören zu den Herstellern, die hochwertige Objektive zu erschwinglichen Preisen anbieten. Das 75mm f/1.5 ist keine Ausnahme und besticht durch eine ausgezeichnete Verarbeitung. Neben dem 75mm f/1.5 bietet TTArtisan auch Nachbildungen des Meyer-Optik Trioplan sowie Reminiszenzen an lichtstarke Leica-Objektive an.

Das TTArtisan 75mm f/1.5 verfügt über einen M42-Anschluss, wodurch es mit Adaptern an alle modernen Systemkameras sowie an ältere analoge Kameras wie Praktica oder Pentax angeschlossen werden kann. Das bauchige Design lehnt sich an das Original-Biotar an; an analogen Kameras fällt es weniger auf, mit Adapter wirkt es jedoch eher wie eine Keule als wie ein Objektiv, denn das Objektiv ist schwer: es ist aus Metall gefertigt und hat viel Glas verbaut (6 Linsen in 4 Gruppen).

Im Gegensatz zum Original Biotar hat man nicht an Blendenlammellen gespart: ganze 13 sanft verrundete erzeugen ein sehr harmonisches Bokeh.

Ach ja: Das Objektiv ist komplett mechanisch/manuell. Kein Autofokus, keine Springblende. Nur Metall und Glas.

Bildqualität

Ich nutze Vintage-Objektive überwiegend an meiner Sony a7 Mark I und bin begeistert, welche Details der Sensor in dieser Kombination zeigt. Die Farben leuchten, das Zentrum ist extrem scharf, und das Bokeh wirkt harmonisch. Mit dem passenden Abstand zwischen Motiv und Hintergrund entfaltet das Bokeh seinen charakteristischen Wirbel-Effekt.

Dank der 75mm-Brennweite eignet sich das Objektiv ideal für Porträts. Naturaufnahmen und Headshots gewinnen einen wunderbaren Charme – ein echter Genuss für alle, die besonderen Look schätzen.

Swirl erzeugen

Der Swirl-Effekt entsteht durch eine elliptische Verformung der Unschärfekreise im Hintergrund. Wenn der Hintergrund einen bestimmten Abstand zum Motiv hat, verformen sich die unscharfen Bereiche und flachen ab – je weiter vom Bildzentrum entfernt, desto stärker.

Ein Hintergrund, der das Motiv komplett umrahmt, ist am besten geeignet, um einen kreisförmigen Swirl zu erzeugen. Ein Motiv direkt auf einem Weg wird weniger gut umwirbelt, da sich der Effekt nur auf den Straßenabschnitt hinter dem Motiv auswirkt.

Handhabung

Überraschenderweise sitzt das Motiv beim M42-Anschluss um 180 Grad gedreht, sodass die Beschriftungen nach unten zeigen. Durch Lösen der drei Schrauben am Objektivansatz kann das Objektiv jedoch korrekt ausgerichtet werden. Hierzu benötigt man einen Torx-5-Dreher.

Die Fokusschnecke erlaubt mit einer Dreivierteldrehung von Unendlich bis zur Naheinstellgrenze (75 cm) eine präzise Einstellung, auch wenn der Fokusring für meine Hände etwas griffiger sein könnte. Die Blendeneinstellung ist nahezu stufenlos mit sanften Rastungen.

An der Sony a7 lässt sich das Objektiv hervorragend fokussieren; die präzise Mechanik und die Bildschärfe im Zentrum erleichtern die Scharfstellung erheblich. Bei älteren Vintage-Objektiven muss ich oft mehrfach den Sweetspot überfahren, doch mit dem TTArtisan 75mm f/1.5 fokussiere ich fast auf Anhieb präzise.

Beispielfotos

Paradedisziplin für das TTArtisan: Motiv bildmittig, dahinter eine Bühne für den Swirl
Paradedisziplin für das TTArtisan: Motiv bildmittig, dahinter eine Bühne für den Swirl

Tolle Farben, scharfes Zentrum. Leider das Motiv falsch platziert, der Kopf müsste in der Mitte sein
Tolle Farben, scharfes Zentrum. Leider das Motiv falsch platziert, der Kopf müsste in der Mitte sein

Leicht abgeblendet, immer noch ein harmonisches Bokeh
Leicht abgeblendet, immer noch ein harmonisches Bokeh

Verträumtes Bokeh, mal ohne Swirl (die Kanten im Hintergrund dominieren)
Verträumtes Bokeh, mal ohne Swirl (die Kanten im Hintergrund dominieren)

Schön zum Freistellen: Offenblende, Swirl und Zentrumsschärfe
Schön zum Freistellen: Offenblende, Swirl und Zentrumsschärfe

Gleichmäßige Zerstreuungskreise
Gleichmäßige Zerstreuungskreise

M42

TTArtisan stellt das 75mm 1.5 Objektiv nur für den M42 Anschluss her. Das verwundert zunächst, denn eigentlich sind die TTArtisan Optiken recht anschlussfreudig: Canon R, Nikon Z, Leica M und L, Fuji X.

Aber M42? Das Schraubgewinde wurde vor 70 Jahren entwickelt. Das Vorbild Biotar wurde mit M42 geliefert. Heutzutage ist das für Analog-Shooter unter Umständen interessant, vielleicht geht es aber auch an der Analog-Zielgruppe vorbei. Denn stylisch ist die Kombi nicht, und die Analog-SLR-Hipster stehen eher auf Japaner als auf DDR-Prakticas. Naja, Pentax hat auch M42 Kameras hergestellt, anfänglich. Das Biotar wiederum gab es nicht nur für M42, sondern auch für Exakta und Praktina.

Abwr der M42 Anschluss ist auch adaptierfreundlich. Denn das große Auflagemaß erlaubt es, die M42 Objektive an nahezu alle Systemkmeras zu montieren.

Etwas nervig ist der M42 Anschluss aber schon, denn durch die satten Schärfe- und Blendengänge dreht sich manchmal die Optik aus dem M42-Gewinde.

TTArtisan an der Praktica
TTArtisan an der Praktica

Fazit

Ich habe jede Menge alte Objektive, durch den Nachlass eines Foto-Sammlers in meine Hände gelangt sind. Es macht mir großen Spaß, diese auszuprobieren, mit ihren konstruktionsbedingten optischen Fehlern, die den Charme der Fotos ausmachen, die mit ihnen erzeugt werden. Die meisten der alten Linsen haben auch einen leichten Schleier oder Staub; der Kontrast wird abgeflacht, und bei Gegenlicht bläst einem eine Lichtwolke ins Gesicht. Auch das hat seinen Charme, den ich gerne nutze.

Das TTArtisan verbindet nun alt mit neu: Das Linsendesign stammt aus den 50ern den letzten Jahrhunderts; die Gläser aber sind frisch, klar und scharf. Diese Schärfe im Bildzentrum hat mich ziemlich überrascht. Das Bokeh und der Swirl tritt noch stärker in Erscheinung , wenn das Auge rasiermesserscharfe Konturen zum Vergleich heranzieht. Außerdem sind die Fotos sehr kontrastreich, im Zusammenspiel mit dem Sensor der Sony a7 kommen fantastische Farben zum Vorschein.

Die Schärfe sitzt offenblendig allerdings nur im Zentrum; man muss also wirklich darauf achten, dass das bildwichtigste Detail (bei Peoplefotografie also der Kopf) sich dort befindet.

Man nimmt das Objektiv gerne zusätzlich mit, weil es eben einen eigenen Look hat.

Negativ - obwohl das eigentlich kein negativ ist - empfinde ich, dass die Fotos mir fast schon zu scharf sind für die nostalgischen Fotos, die ich damit machen möchte. Obwohl das bei der digitalen Bearbeitung kein Problem ist, das ist nur ein Klick in Lightroom.

Ein dicker Eumel vor der Nase: das TTArtisan 75mm 1.5 an der Sony
Ein dicker Eumel vor der Nase: das TTArtisan 75mm 1.5 an der Sony

Nachtrag - das Original-Biotar

Ein Biotar hab ich nicht im Besitz, kann es also nicht mit dem TTArtisan vergleichen.

Aber ich hab das Biotar in einem Warenkatalog von 1954 gefunden - ein schönes Zeitdokument, dass ich Euch nicht vorenthalten möchte:

Biotar im Photo/Kino Warenkatalog 1954
Biotar im Photo/Kino Warenkatalog 1954

Biotar im Photo/Kino Warenkatalog 1954
Biotar im Photo/Kino Warenkatalog 1954

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