Den 85. Geburtstag meiner Mutter feiern wir in Tallinn, welch wunderbare Stadt!

Es ist ein Zufall, ein glücklicher, dass wir nach Tallinn fahren, um den Geburtstag meiner Mutter zu feiern. Vor 5 Jahren, zum 80.ten, waren wir in Paris, und für den 85.ten sollte die Stadt etwas kleiner, etwas fußfreundlicher bezügllich der zurückzulegenden Entfernungen sein.

Ich hatte wenig Zeit für gründliche Vorbereitungen, abgesehen davon, ein paar Mal Google Maps zu konsultieren, um die Unterkunft zu buchen. Ein passendes AirBnB für uns drei konnten wir in Tallinn nicht finden,
also entschieden wir uns für ein klassisches Hotel: Das Radisson machte einen guten Eindruck, also buchten wir es inklusive Early Check-in und Late Check-out.

Das Baltikum

Jetzt, nach der Rückreise, ist meine Neugier auf das Land groß, und ich lese und recherchiere zu Land, Natur und Geschichte. Also mische ich meinen Reisebericht mit geschichtlichen und kulturellen Hintergründen, die ich aber erst nach der Reise, beim Blogschreiben, erfahren habe.

Das Baltikum sind diese drei Länder, die ganz weit im Osten der Ostsee liegen. Soweit östlich, dass die Ostsee auf estnisch Läänemeri / Westsee heißt.

Estland liegt direkt gegenüber von Helsinki am Finnischen Meerbusen, und ist das kleinste der drei baltischen Länder, von der Größe vergleichbar mit Dänemark.

Geschichtliches

Estland, wie auch Lettland und Litauen, wurden in ihrer wechselvollen Geschichte von den Großmächten beherrscht, bis sie schließlich ihre Freiheit erlangten.

Deutscher Orden

Die deutschen Einflüsse wurden im Mittelalter von 1300 - 1550 durch Kreuzzüge gegen die baltische Minderheit begründet und im Deutschen Orden fortgesetzt. Tallinn wurde Hansestadt, es galt das Lübecker Stadtrecht. Spaziert man durch die Stadt, entdeckt man diese Einflüsse noch überall – besonders an den prächtigen Gildehäusern in der Langstraße (Pikk tänav). Hier befindet sich auch das Haus der Schwarzhäupter, eine Vereinigung der unverheirateten Kaufmannsgesellen. Die deutschen Aussiedler stellten die adelige Oberschicht und siedelten vorwiegend in den Städten. Die Deutsch-Balten prägten die Kultur für Jahrhunderte; für die estnische Bevölkerung war der Aufstieg schwer, die Bauern lebten in Leibeigenschaft.

Schwedenzeit

Nach dem Niedergang des Deutschen Ordens gerieten die baltischen Länder unter schwedischen Einfluss, wobei sich die Lebensverhältnisse der Bauern besserten und Bildung und Kultur gefördert wurden.

Russische Ostseegouverments

Im Großen Nordischen Krieg verlor Schweden gegen Russland, das nun von 1710 - 1918 zwei Jahrhunderte in den “Russischen Ostseegouvernements” herrschte. Die Deutsch-Balten arrangierten sich, behielten weiterhin ihre Privilegien, und stellten im zaristischen Russland zahlreiche Generäle und Minister.

In diese Zeit fällt auch der Bau der prächtigen Alexander Nevsky Kathedrale, mit der die Vormacht der russischen Kultur demonstriert werden sollte. Aus diesem Grund haben die Esten ein zwiespätiges Verhältnis zu dieser Kirche und hatten auch erwogen, sie abzureissen.

Alexander Nevsky Kathedrale
Alexander Nevsky Kathedrale

Estnische Unabhängigkeit

Unter Zar Alexander I. wurde die Leibeigenschaft gelockert, und allmählich kamen die Estnischen Bauern in Besitz der Höfe und Güter. Russland versuchte, im Baltikum die deutsch geprägte Vormacht durch Russifizierung zurückzudrängen, wodurch das Gegenteil erreicht wurde: Das estnische Nationalgefühl erwachte. Nach der Oktoberrevolution in Russland wurde im Freiheitskrieg 1918 - 1920 die Unabhängigkeit erkämpft.

Der estnischen Freiheit und Unabhängigkeit wird heute am Tallinner Freiheitsplatz gedacht. Neben der estnischen Flagge hängt hier aus Verbundenheit auch die ukrainische.

Estland als Sowjetrepublik

Lang währte die Unabhängigkeit nicht. Im 2. Weltkrieg wurde Estland abwechselnd von der deutschen und der sowjetischen Armee besetzt, und nach Kriegsende eine Sozialistische Sowjetrepublik. Ein Zeugnis dieser Epoche ist Linnahall: eine gigantische Betonarchitektur, in dem Konzerte und Sportveranstaltungen stattfanden.

Sowjetisches Sport- und Kulturzentrum Linnahall
Sowjetisches Sport- und Kulturzentrum Linnahall

Brutalismus Beton
Brutalismus Beton

Auch der 314 Meter hohe Fernsehturm stammt aus dieser Zeit (Zum Vergleich: der Berliner Fernsehturm misst 368 Meter). Wer an Akrophobie (Höhenangst) leidet, kann sich auf der Aussichtsplattform die Tür zu seinem persönliches Panikkämmerchen ganz ganz weit aufmachen: Nur mit einem Seil gesichert sitzt man beinebaumelnd in 170 Metern Höhe am Rand des Abgrunds, während sich die Basejumper hinabstürzen.

Aber auch sonst im Straßenbild begegnet man dem Sowjetstern, für Berliner und Ostdeutsche ein gewohntes Bild.

Sowjetstern am Giebel, Mercedesstern auf der Straße
Sowjetstern am Giebel, Mercedesstern auf der Straße

Estland hat in den vergangenen Jahrzehnten sowjetische Denkmäler entfernt oder umplatziert, was den Moskauer Kreml erzürnt. Anfang 2024, also in diesem Jahr, hat Russland deswegen die estnische Regierungschefin Kaja Kallas auf die russische Fahndungsliste gesetzt, auf der Personen stehen, “die feindliche Handlungen gegen die historische Erinnerung und gegen unser Land ausführen.”

Die singende Revolution

Als in den 90ern des letzten Jahrhunderts die Sowjetunion abgewirtschaftet und der Kreml vergreist war, suchte Gorbatschow noch mit Glasnost und Perestroika die UdSSR vergeblich zu retten. In der zerfallenden Union forderte und erkämpfte sich Litauen am 11.3.1990 als erste Sowjetrepublik die Unabhängigkeit,Lettland und Estland folgen im Mai. Vorangegangen war am 23. August 1989 eine Menschenkette von 2 Millionen Esten, Letten und Litauern, die 650 Kilometer von Tallin über Riga nach Vilnius reichte. Das Datum war geschichtsträchtig - es war der 50.te Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes. Im geheimen Zusatzprotokoll des Paktes vereinbarten Deutschland und die UdSSR die Aufteilung Poles, des Baltikums und Bessarabiens. Dieses Protokoll wurde von der UdSSR stets geleugnet, selbst Gorbatschow bestritt seine Existenz. Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde das Dokument bestätigt.

Der Baltische Tiger

In den folgenden Jahren hat Estland eine radikale Modernisierung und wirtschaftliche Entwicklung bewältigt. 1991 hatte weniger als die Hälte der Esten einen Telefonanschluss; im Jahr 2000 hatte jeder Bürger Anspruch auf Internetzugang. 2005 fanden in Estland die Wahlen digital statt - als erstes Land der Welt.

“The baltic Tiger” wurde das Wirtschaftswunderland Estland getauft; skandinavische Unternehmen kamen und investierten. Es ist der besondere Reiz Tallinns, all diese geschichtlichen Einflüsse auf engem Raum erleben zu können. Direkt neben der kompakten und wunderbar erhaltenen Altstadt schließt sich ein Geschäftsviertel mit Hochhäusern an, in dessen Schatten alte Kirchen und historische Gebäude stehen.

Boomtown Tallinn
Boomtown Tallinn

Alte Gebäude zwischen Hochhäusern
Alte Gebäude zwischen Hochhäusern

Rotermann Viertel

Genug des Geschichtsunterrichts; zurück zur Reise. Der Hinflug geht um 6:35; das heißt um 3:00 Aufstehen. Ein Uber bringt mich zum Terminal 1, wo wir uns treffen. Ich hab noch den BER Runway gebucht (eine Zeitfenster ohne Wartezeit für die Sicherheitskontrolle), doch die war unnötig.

Der Flieger startet pünktlich; die Augen wissen noch nicht, ob sie schon aufbleiben sollen, dann landen wir zwei Stunden später in Tallinn.

Das Hotel erreichen wir nach 20 Minuten Taxifahrt; der Flughafen liegt nur ein paar Kilometer entfernt. Für den Early Checkin ist es noch zu früh, also geben wir nur unser Gepäck ab und spazieren los, in Richtung Altstadt.

Zwischen unserem Hotel und der Altstadt entdecken wir das Rotermanni-Viertel. Hier findet sich eine spannende Mischung aus alter Industriekultur und moderner Architektur. Ein Fotospot ist die Stalkeri käik, eine schmale Gasse, unter einem Dach von aufgespannten bunten Regenschirmen. Der Name der Gasse gedenkt an Tarkovkys Film “Stalker”, der unter anderem hier gedreht wurde.

Die Stalkeri käik im Rotermann-Viertel
Die Stalkeri käik im Rotermann-Viertel

Faszinierende Lichtspiele im Rotermann Viertel
Faszinierende Lichtspiele im Rotermann Viertel

Chillen in der Outdoor Lounge Rotermann
Chillen in der Outdoor Lounge Rotermann

Rotermann-Viertel - Mix aus alter und neuer Architektur
Rotermann-Viertel - Mix aus alter und neuer Architektur

Altstadt Tallinn

Nur ein paar Schritte entfernt beginnt die bezaubernde Altstadt Tallinns. An duftenden Blumenmärkten vorbei, gehen wir zwischen den Türmen der Stadtmauer hindurch auf die Viru, die uns zum zentralen Marktplatz führt.

Am ersten Tag, vom frühen Aufstehen und Anreise müde und hungrig, suchten wir ein Cafe für ein kleines Frühstück - Croissant, Oragensaft, Kaffee. Auf dem Maktplatz hat man dafür große Auswahl, auf jeder Seite fangen Restaurants mit großen Terassen die Touristen ein, die wie wir durch die Stadt irrlichtern. Im “Ulf” überredet uns ein Anwerber, Platz zu nehmen, aber auf britisches Frühstück mit Speck, Bohnen und Ei haben wir keine Lust. Chez Ulf verlassen wir zugunsten des wunderbaren kleinen Cafés “Kofeman”. Kaffee, Limo und Kuchen sind fantastisch. Wir staunen nicht schlecht, als wir auf der Karte sehen, dass man auch einen oder zwei Liter Cappucino bestellen kann.

Stadtmauer Tallinn
Stadtmauer Tallinn

Blick auf Tallinn von Kohtuotsa
Blick auf Tallinn von Kohtuotsa

Die Gassen der Altstadt
Die Gassen der Altstadt

Wappen im Dom von Tallinn
Wappen im Dom von Tallinn

Die dreieinhalb Tage unserer Reise verbringen wir immer wieder in der Altstadt, ohne dass es uns zuviel wird. Es gibt so viel zu sehen, und durch die unterschiedlichen Höhenlagen (Oberstadt mit Dom, Unterstadt mit Markplatz) ergeben sich immer wieder neue Perspektiven, je nachdem, in welche Richtung man geht.

In den Abendstunden wird die Stadt noch lebendiger, ausgehfreudige Touristen und Einheimische bevölkern die Straßen. Zwei russische Mädchen gestikulieren und quasseln, und wollen, dass ich Fotos mache. Sie quietschen vor Vernügen, als sie mit ihren Handys mein Kameradisplay abfotografieren.

Russische Mädchen machen Fotosession
Russische Mädchen machen Fotosession

Telliskivi

An die Altstadt schließt sich Telliskivi an, das Alternativ-Viertel Tallinns. Uns erinnert es an das Berliner Tacheles und Yaam. Streetart, Cafes, Graffiti. Ein paar spielen Basketball, auf Holzpaletten wird gerappt. Durch das Viertel ziehen sich
Banksy Graffities “Follow the Balloon”, die zur Banksy Ausstellung leiten. Den Besuch haben wir ausgelassen.

Szeneviertel Telliskivi
Szeneviertel Telliskivi

Ukrainisches Restaurant in Telliskivi
Ukrainisches Restaurant in Telliskivi

Banksy Austellung in Tallin
Banksy Austellung in Tallin

Graffiti und Szeneviertel Telliskivi
Graffiti und Szeneviertel Telliskivi

Pirita: Strand und Kloster

Wir erwerben in der Touri-Info Tagestickets für den ÖPNV (5€ pro Tag), und fahren nach Pirita, um dort das Birgitten-Kloster zu besichtigen. Das Kloster stammt aus dem Jahr 1407, im Jahr 1577 wurde es durch die Truppen Iwan des Schrecklichen zerstört. Aber die Wände des Hauptgebäudes sind noch zu sehen, und über eine enge und steile Wendeltreppe kann man oben hinaufklettern.

Die Gegend Pirita hat seinen Namen vom Fluss Pirita, der neben dem Kloster fließt und ein paar hundert Meter weiter in die Ostsee mündet. Tarkovsky hat auch am Fluss Szenen zu Stalker gedreht; zu dieser Zeit muss das Gewässer durch die stromaufwärts gelegene Chemiefabrik so elendig verseucht gewesen sein, dass die Crew allergische Reaktionen zeigte. Auch eine Reihe von Krebserkrankungen des Filmteams soll damit in Verbindung gestanden haben.

Von alldem ist heute nicht mehr zu sehen; im Gegenteil, das Flusshabitat ist ein Naturschutzgebiet geworden, zudem speist der Fluss das Trinkwasserreservoir Tallinns.

Zur Ostsee sind wir natürlich auch gegangen. Bei 28° und keinem Luftzug wäre eine Badehose recht gewesen; statt dessen laufe ich mit langer Hose, immerhin hochgekrempelt, am Ufer der Ostsee.

Wir nehmen uns den nordwärts gelegenen Betonklops als Ziel, der sich als Hotel mit Cafebereich entpuppt. Eine Pause dort für eine Erfrischung kommt bei der Hitze gerade recht. Bedienung und Gäste sprechen überwiegend russisch, und als wir nach 30 Minuten immer noch keine Bestellung aufgeben konnten, fahren wir zurück zum Hotel.

Kloster Pirita
Kloster Pirita

Ostseestrand Pirita
Ostseestrand Pirita

Kadriorg / Katharinental

Das Schloss Katharinental befindet sich nur ein paar Autominuten von der Altstadt entfernt im Park Kadriorg. Zar Peter der Große ließ es zu Beginn der russischen Herrschaft 1718–1725 erbauen. Ein Cafe im Schloss weckt unsere Lebensgeister, dann spazieren wir auf die Rückseite, die mit den bunten Blumenbeeten ein überraschend anmutigeres Bild abgibt als die Frontseite. Vielleicht sind wir auch nur von den Dimensionen der Potsdamer Schlösser etwas hochmütig geworden.

Meiner kunstbeflissenen Mutter verdanken wir dann noch den Spaziergang durch den Park zum “Kumu”, dem Kunstmuseum, das 2006 eingeweiht wurde mit mit seiner modernen Architektur und Größe beeindruckt. Zu einen Ausstellungsbesuch sind unsere Beine nach der vielen Lauferei nicht zu überreden, aber wir spazieren durch das Foyer und die Außenanlagen.

Schloss Katharinenthal
Schloss Katharinenthal

Kunstmuseum Kadriorg
Kunstmuseum Kadriorg

Sprache

Abschließend noch ein paar Anmerkungen zur estnischen Sprache. Estnisch ist mit dem Finnischen verwandt (im Gegensatz zu Litauisch und Lettisch, die den baltisch/indogermanischen Sprachen zugerechnet werden).

Viele Wörter, die man im Stadtbild sieht, kennt man wieder, wenngleich die Schreibweise ungewöhnlich und bisweilen auch amüsant wirkt:

  • Politsei
  • Mööbel
  • Hoov (Hof)
  • Pirn (Birne)
  • Haamer (Hammer)

Die Esten sind Meister der langen Vokale, gerne mit Umlauten:

  • öötöö (Nachtarbeit)
  • jäääär (Eisrand)

Viel Kontakt mit der estnischen Sprache hatten wir nicht; im Tourialltag kommt man gut mit Englisch zurecht

Arhitektuur & Interjöör
Arhitektuur & Interjöör

Bussi-Terminal
Bussi-Terminal

Palju õnne sünnipäevaks

Palju õnne 85. sünnipäevaks, kallis ema, vanaema ja peagi saav vanavanaema!

Palju õnne sünnipäevaks!
Palju õnne sünnipäevaks!

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