Man muss kein Mathematiker sein, um sich im Lieper Winkel zu verirren, aber es hilft ungemein.

1990 muss es gewesen sein, kurz nach der Maueröffnung, als ich mit meinem Freund Bernhard ins Auto stieg und aus Berlin (West) nach Norden zur Küste fuhr; In Güstrow waren wir, in Stralsund, und auf Usedom. Der Lieper Winkel, diese Halbinsel auf der Halbinsel Usedom hatte mich damals schon fasziniert; wie ein aufgepusteter Ballon liegt er da im Achterwasser, und wenn man am Ufer steht und aufs Achterwasser schaut, sieht man gegenüber das andere Ufer.

Eine Viertelinsel im Achtelwasser

Der Lieper Winkel. Es gibt eine Straße rein und dieselbe wieder raus, und diese Straße zerteilt sich in ein paar Äste, um die wenigen Orte zu erreichen: Rankwitz und Quilitz im Westen, Liepe in der Mitte und Warthe, Reestow und Grüssow im Norden und Osten.

Sich hier zu verirren, schaffen wohl nur zwei Mathematiker, denn zwei Mathematik-Studenten waren wir, als wir auf der Reise in den unbekannten Osten waren, das Diplom in Vorbereitung. Worüber wir uns wohl seinerzeit unterhalten haben, als wir in den Lieper Winkel hinein stapften? Ist eine Halbinsel einer Halbinsel rechnerisch eine Viertelinsel? Ist der Lieper Winkel eine Mandelbrotmenge, die, egal wie tief man in sie hineinzoomt, immer wieder die gleichen Strukturen offenbart?

Wir hatten das Auto abgestellt, sind diskutierend los gewandert, die Umwelt vergessend, und als wir umkehrten,
haben wir das Auto nicht mehr gefunden.

Zurück im Lieper Winkel

Natürlich heißt es nicht Achtelwasser. Das Achterwasser trägt seinen Namen, weil es “achtern”, also hinten liegt. Vorne sind die Kaiserbäder und die Ostsee, hinten ist eine große Lagune gefüllt mit dem Achterwasser. Gespeist wird es vom Peenestrom, was wiederum ein Meeresarm ist, der Usedom umspült, und seinen Namen vom Fluss Peene erhalten hat, der bei Anklam in die Ostsee mündet. Und da Usedom komplett von Wasser umspült ist, ist es keine Halbinsel, sondern eine echte Insel.

Jetzt bin ich wieder im Lieper Winkel, Moni hat ihn ausgesucht, als Refugium für ein paar Tage Urlaub im Herbst. Doch auch diesmal läuft es nicht nach Plan; Moni kann nicht verreisen, und wir entscheiden, dass ich alleine mit unserer Hündin Milli fahre.

Rankwitz

Unsere Unterkunft ist Hermans Hof in Rankwitz, ein neugebautes Feriendomizil. Der Betreiber verspricht idyllische Ruhe abseits des Ostseerummels, und um das zu beweisen, hat er gleich an mehreren Stellen Ferienanlagen in den Winkel gebaut.

Auf dem schmalen Hof steht ein Brunnen im italienischen Stil; ein nackter Jüngling hält einen Fisch, aus dessen Maul Wasser sprudelt. Griechisch-römische Anklänge finden sich dann auch bei den Bildmotiven, an den Wänden hängen Landhauslüster, dazu eine Sitzecke im floralen Design. Das ist keine authentische Küstengestaltung, sondern die Inszenierung ländlicher Romantik, die genauso gut oder schlecht in den Harz oder an die Mosel passt. Macht nüscht, die Sessel sind bequem, ich mach mir einen Kaffee und schaue aus dem Fenster, dem nackten Jüngling auf den blanken Hintern.

Betreten verboten

Ich mache mich auf zu einen ersten Spaziergang durch Rankwitz und möchte zum Wasser. In Rankwitz gruppieren sich die Häuser um einen kleinen Anger; die Hälfte sind Neubauten. Große Enttäuschung hier: Immer wenn es einen Pfad zu Achterwasser gibt, ist der Zugang gesperrt. “Privat - Betreten verboten” - mit solchen Schildern wird klargestellt, dass man - nur weil man Gast auf der Halbinsel ist - noch lange kein Anrecht auf einen Wasserblick hat.

Wanderungen im Lieper Winkel

Meine Hündin Milli muss etwas geschont werden; mehr als 10-12 Kilometer mag ich ihr nicht zumuten. Deshalb mache ich nicht die Inselumrundung, die etwa 16-18 Kilometer lang ist, sondern entscheide mich für mehrere kleine Touren.

Rankwitz - Quilitz - Warthe

Sehr schön ist der Spaziergang von Rankwitz Richtung Warthe im Norden der Insel. Zwischen Quilitz und Warthe läuft man auf einem erhöhten Küstenabschnitt, Steilküste mag man es nicht nennen, aber da, wo der Blick frei ist, reicht er weit über die Küstenvegetation. In Warthe kann man zum Wasser, es weiter am Hafen ist das Betreten verboten. Ab hier geht es über Liepe zurück. Dabei muss man leider lange Abschnitte an der Straße laufen.

Reestow - Grüssow

Im Norden/Nordosten der Insel läuft man kilometerlang auf einem Deichpfad. Außer ein paar Wanderern/Radfahrern gibt es nur in den Orten Begegnungen. Das Land hinter dem Deich ist Grünland, auf dem sich Rinder tummeln. In Grüssow gibt es eine kleine Stelle mit Wasserzugang - Betreten verboten, ist ja klar.

Reestow und Grüssow sind ursprüngliche Orte, die Landwirte, denen ich begegne sind freundlich. Dennoch hab ich diese Tour als etwas eintönig empfunden. Vom Havelland bin ich eine vielfältige Vogelwelt gewöhnt: Kraniche, Schwäne, Fischadler, Wildgänse sind auf fast jeder Wanderung zu erleben. Zu meiner Überrraschung ist der Himmel hier leer. Noch nicht einmal Möven sehe ich.

Rankwitz - Krienke

Krienke liegt südlich von Rankwitz, wird zum Lieper WInkel mit gezählt, obgleich das Dorf nicht mehr auf der Halbinsel Liepe liegt. Ein langer Spaziergang durch einen herrlichen Mischwald führt dorthin; in Krienke gibt es einen Dorfladen/Cafe, das ich allerdings nicht besucht habe. Von Krienke läuft man dann über einen sanften Hügelrücken zum Peenestom.

In Nähe des Gewässers geht es dann gen Norden wieder zurück; teils neben Feldern, teils in einem schönen Birken-Eichen-Mischwald. Südlich von Rankwitz erreicht man die neu gebaute Hafensiedlung mit Hotel, Supermarkt, Fischverkauf und Restaurant, und kann von dort einen Schlenker durch den Wald zurück nach Rankwitz machen, wodurch man die Passage an der Straße vermeidet.

Lieper Winkel - muss ich nicht noch mal hin

Mein kurzer Urlaub im Lieper Winkel steht unter erschwerten Bedingungen; Moni konnte nicht mit, ich hab eine nicht abklingen wollende Kieferentzündung, und trotz Urlaub bin ich jeden Tag viele Stunden mit Arbeitsaufgaben befasst. Da will Urlaubsstimmung eh nicht richtig aufkommen.

Andererseits überzeugt mich der Lieper Winkel auch nicht, am richtigen Ort zu sein. Ich bin zwar auf Usedom, aber sehe die Ostsee nicht. Das Achterwasser, das stattdessen die Landschaft prägt und das ich kennen lernen will, ist häufig nicht zugänglich.

Wandern macht hier viel Spaß, aber Rundwege gibt es nur den richtig großen - die Inselumrundung. Wenn man die Küste in Teilstücken läuft, muss man längere Straßenabschnitte ertragen.

Urlaub abseits des Ostseerummels, so wird der Lieper Winkel angepriesen. Warum muss es dann unbedingt Usedom sein? Die anderen Gäste hier im Hermans Hof sind tagsüber mit dem Auto auf Usedom unterwegs, im Ostseerummel.

Meine Unterkunft ist perfekt komfortabel, doch ich würde etwas Komfort gerne gegen etwas mehr Ursprünglichkeit eintauschen. Und etwas weniger Verbotsschilder.

Damals, mit Bernhard, waren wir lost im Lieper Winkel, diesmal, alleine hier, fühle ich mich auch verloren.

Ich hatte gedacht, dass ich mit Moni unseren Urlaub hier noch einmal gemeinsam nachhole, aber das werden wir wohl nicht machen. Da gibt es genügend Orte zwischen Berlin und Usedom, die Ruhe spenden, authentisch sind und nicht an noch so kleinen Badestellen “Betreten verboten” Schilder haben. Und die weit weit weg vom Urlaubsrummel sind.

Anleitung zum Verirren im Lieper Winkel

Und wie verirrt man sich nun im Lieper Winkel?

Die Voraussetzungen dafür sind schnell aufgezählt:

  • Man sollte Mathematik studieren
  • Nach der Maueröffnung das erste Mal “in den Osten” fahren
  • Sich nicht mit der Umgebung befassen, sondern statt dessen mathematischen Gespinsten nachhängen

Dann muss man - ganz wichtig - das Auto hinter einer Scheune parken, von der Straße aus nicht einsehbar, und beim losmarschieren sich keine Merkmale einprägen.

Beim Zurückwandern geht man dann ganz automatisch an der Scheune vorbei, einfach immer weiter.

Markierungspfähle in Warthe
Markierungspfähle in Warthe

Sumpfgebiete im Küstenabschnitt des Achterwassers
Sumpfgebiete im Küstenabschnitt des Achterwassers

Wanderschilder auf dem Jungfernberg (es gibt nur einen Weg rauf und runter!)
Wanderschilder auf dem Jungfernberg (es gibt nur einen Weg rauf und runter!)

Fischernetze in Warthe
Fischernetze in Warthe

Einsamkeit im Achterwasser. Wo sind die Vögel?
Einsamkeit im Achterwasser. Wo sind die Vögel?

Vögel! Alle drei auf einmal!
Vögel! Alle drei auf einmal!

Gipfelkreuz auf dem Jungfernberg, Höhenluft auf 18 Metern
Gipfelkreuz auf dem Jungfernberg, Höhenluft auf 18 Metern

Betreten ausnahmsweise erlaubt, Wasserzugang in Warthe
Betreten ausnahmsweise erlaubt, Wasserzugang in Warthe

Kirche in Liepe
Kirche in Liepe

Idyllischer Pfad zur Kirche Liepe
Idyllischer Pfad zur Kirche Liepe

Stellwerk am Achterwasser
Stellwerk am Achterwasser

Badestelle im Norden
Badestelle im Norden

Hafen Grüssow, Betreten verboten
Hafen Grüssow, Betreten verboten

Alles Rübenköppe hier
Alles Rübenköppe hier

Deich, kilometerlang
Deich, kilometerlang

Am Uferbereich im Westen
Am Uferbereich im Westen

Der Deich im Westen
Der Deich im Westen

Hübscher Abschnitt bei Quilitz
Hübscher Abschnitt bei Quilitz

Alter Konsum in Warthe
Alter Konsum in Warthe

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