Sommerurlaub im Süden Polens – zweiter Teil: Das Riesengebirge bei Jelenia Góra

Dies ist der zweite Teil unseres Reiseberichts über die großartige Polen-Reise – die erste Woche haben wir im
Glatzer Bergland verbracht, den Bericht kannst du hier lesen.

Wir verlassen das Kamienica-Tal im kühlen, immer wieder regnerischen Wetter – mit Wehmut im Herzen. Die stille Abgeschiedenheit des Tals, die Geborgenheit der Waldhütte: beides ist mir ans Herz gewachsen.

Vielleicht, weil die Hütte der erste Ort einer lang erwarteten Reise war. Hier haben wir uns vorsichtig herangetastet an Landschaft, Leute und Sprache. Noch jetzt – beim Blick auf die Fotos – spüre ich die leise Aufregung jener Abende, wenn wir am kleinen Tisch saßen, bei trommelndem Regen auf dem Dach, auf dem Handy nach Wegen suchten, in den Reiseführern blätterten, polnische Vokabeln in ein Heft notierten und an der Aussprache feilten.

Am Morgen gönne ich mir noch eine letzte Runde über die Berge. Die Wiesen sind nass, der Himmel hängt grau über der Landschaft. Mit jedem Schritt, den ich höher steige, lösen sich die Wolken und schweben wie Gespenster über die Täler. Der Schotter knirscht unter meinen Wanderschuhen, und von den Ästen schnellen ein paar letzte, aufbewahrte Regentropfen herab.

Der Weg führt mich einen mir noch unbekannten Höhenrücken, von dem sich weite Blicke in das Nachbartal öffnen – ein unerwartetes Abschiedsgeschenk dieser Landschaft.

Das Auto ist vollgepackt, die Waldhütte wieder leer. Das Navi empfiehlt uns als beste Strecke eine Route, die ein Stück durch Tschechien verläuft. Die Straßen dorthin sind uns bereits von unseren Ausflügen ins Heuscheuergebirge vertraut, und ohne große Ankündigung sind wir plötzlich in Tschechien.

Nicht, dass wir in der einen Woche der polnischen Sprache und Kultur schon zu Experten geworden wären – aber als wir Tschechien wieder verlassen und zurück nach Polen fahren, fühlt es sich fast wie Heimkehr an.

Doch unser Plan gerät ins Stocken: Die Straße, die uns eigentlich zum Ziel führen sollte, ist wegen Bauarbeiten komplett gesperrt. Also heißt es umdrehen, neue Wege suchen, wieder kehrt machen – und jedes Mal scheint das Navi beleidigt zu sein, bis es schließlich ein Einsehen hat und uns eine Alternativroute gönnt.

So werden aus den geplanten zwei Stunden am Ende vier, in denen wir uns durch Berge und Täler schlängeln, bis wir endlich in das Gebiet des Riesengebirges eintauchen. Vor uns öffnet sich die Landschaft südlich von Jelenia Góra – jener alten schlesischen Stadt, die einst Hirschberg hieß und als Zentrum der Leinenweberei berühmt war.

Mit jeder Kurve rücken die Berge näher, die Straße windet sich schmaler, ungeduldig kommen wir unserem Ziel Przesieka näher.

Die Straßen werden enger, die Hänge steiler, und wir hoffen, dass uns niemand entgegenkommt. Schließlich führt uns ein Sträßchen bergauf, an zwei Häusern vorbei,und wir finden unser Haus noch weiter oberhalb. Der Weg ist steil, der Motor jault, die Reifen quälen sich über spitzes Geröll. Doch oben finden wir schließlich einen Key-Safe – und der Code passt. Wir sind angekommen.

Statt dunkler Enge empfängt uns ein weiter, heller Raum mit Panoramafenstern, die den Blick in die Berge öffnen. Eine große Kochinsel, ein Sofa, das förmlich zum Hinwerfen einlädt, eine Terrasse mit Weite – sogar eine Sauna und ein Jacuzzi gehören dazu. Nach den Tagen in der einfachen Waldhütte ist es ein Palast.

Unser komfortables Haus in Przesieka
Unser komfortables Haus in Przesieka

Nach einem ersten Kaffee zieht es uns hinaus. Komoot schlägt mir eine kurze Runde vor, gerade genug für diesen Ankunftstag. Oberhalb unseres Hauses öffnet sich ein kleines Plateau, auf dem helle Birken zwischen großen Felsblöcken stehen. Wenn wir die Köpfe recken, schaut uns zwischen den Bäumen das hohe Gebirge an – als wolle es uns an einen Schwur erinnern: Wer ins Gebirge fährt, muss auch hinaufsteigen.

Zu unserer Überraschung sind wir nicht in einem Dorf mit gewachsenem Kern gelandet, sondern in einem Geflecht aus Straßen, die zu verstreut liegenden Häusern führen – nebeneinander und doch voneinander verborgen. Ein schmaler Pfad leitet uns durch die sanfte Hügellandschaft. Immer wieder öffnen sich Blicke in die weite Ebene vor dem Riesengebirge. Wir kommen an einer kleinen Kirche vorbei und sehen schließlich die Abzweigung zu den Wasserfällen, die als besondere Sehenswürdigkeit der Gegend gelten.

Die Wasserfälle wollen wir uns für morgen aufsparen. Heute reicht uns die kleine Runde, ein erstes Annähern an die neue Umgebung.

Die Podgórna-Wasserfälle von Przesieka

Nach der Nacht setzen wir den Plan um. Auf dem uns schon bekannten Weg gehen wir zur Kirche. Dann geht der Weg hinab, hinein in den Wald, zum Podgórna-Wasserfall, einem der drei größten Wasserfälle des polnischen Riesengebirges.

Schnitzkunst am Wegesrand
Schnitzkunst am Wegesrand

Blick von Przesieka zum Stausee
Blick von Przesieka zum Stausee

Eine Gruppe deutscher Hippies kommt uns entgegen, der Frontmann trägt eine qualmende Riesentüte vor sich her – nein, kein Dope, Weihrauch.

Der Wald ist zauberhaft: große moosbedeckte Felsblöcke liegen herum, wir steigen über Wurzeln hinab und nehmen am kleinen Becken unter dem Wasserfall Platz. Schon im 19. Jahrhundert kamen Gäste hierher – damals galt Przesieka als Kurort, in dem man „frische Luft und kaltes Wasser“ empfahl.

Podgórna-Wasserfall
Podgórna-Wasserfall

Nach einer Weile führt uns der Weg wieder bergauf, hinaus aus dem Tal. Vor uns liegt Borowice, doch wir ziehen weiter. Kurz darauf stoßen wir auf die japanischen Gärten – hübsch angelegt, doch für den Besuch der Teestube müssten wir den kompletten Eintrittspreis zahlen. Nach einem richtigen Besuch ist uns nicht, wir werfen nur einen Blick über den Zaun und gehen weiter.

Auf dem Rückweg durchs Tal gönnt sich Milli noch ein Bad im Bach. An einer Brücke entdecken wir unter uns ein Auto, das mitten im Wasser steht, als hätte es ein Riese dort hineingesetzt. „Wie die den da wohl wieder rausbekommen?“ fragen wir uns. Am nächsten Tag ist es verschwunden, als wäre nichts gewesen.

Die Kirche in Przesieka
Die Kirche in Przesieka

Ein Gartenzaun aus Skiern
Ein Gartenzaun aus Skiern

Huch, wie kommt der da rein?
Huch, wie kommt der da rein?

Szklarska Poręba / Schreiberhau: Zackelfall, Wallonenhütte und ein goldener Ausblick

Heute zieht es uns nach Szklarska Poręba – oder Schreiberhau, wie der Ort früher hieß. Einst ein Zentrum der Glasbläserei, lebt die Erinnerung noch im Namen „Szklarska“ fort.

Wir parken bei der alten Łukaszmühle und suchen den Ausweg aus dem Trubel. Zunächst begleitet uns das Brummen der Lastwagen auf der Straße gegenüber, doch bald biegt unser Weg ab auf eine Lichtung. Alte Bauernhäuser säumen den Rand, und mitten darin liegt die Chata Walońska, die Wallonenhütte. Ein Bistro in einer winzigen Hütte lädt uns ein, und wir gönnen uns einen frühen Kaffee - Moni versucht sich erfolgreich mit der Bestellung auf polnisch, obgleich sofort ein netter Familienvater zur Seite springt und anbietet zu helfen.

Gleich nebenan erzählt ein kleines Museum von den Walonen – Schatzsuchern und Bergleuten, die im Mittelalter nach Erzen und Mineralien gruben. Viele kamen aus Belgien und Nordfrankreich, brachten ihr Wissen ins Riesengebirge und hinterließen Sagen, in denen Rübezahl natürlich nicht fehlen darf.

Wieder am Fluss, diesmal an der Szklarka, umfängt uns ein zauberhafter Wald: moosige Felsbrocken, knorrige Wurzeln, das unablässige Rauschen des Wassers. Eine junge Familie kämpft den Hang hinauf, den Kinderwagen balancierend, und wir erinnern uns an unsere eigenen Versuche, mit drei Kindern bergtauglich zu bleiben. Einmal machte sich das Vorderrad unseres Kinderwagens selbständig und hüfte fröhlich den Hang hinab - eine filmreife Slaptstikszene.

Der Weg wird voller, wir nähern uns dem Höhepunkt – den Zackelfällen. Schon im 18. Jahrhundert zog dieser Wasserfall die Hirschberger Kurgäste an, Maler der Romantik verewigten ihn auf Leinwand.

Der Zackelfall
Der Zackelfall

Von hier aus ist es nicht weit bis zur Straße mit zahlreichen Verkaufsständen. Unser Weg steigt auf der anderen Seite
wieder an und führt in einem weiten Bogen zurück Richtung Szklarska Poręba. Unterwegs passieren wir das sagenhafte
„Grab Rübezahls“ und kurz danach die Aussichtsplattform „Złoty Widok“ (Goldener Ausblick), von der wir einen
beeindruckenden Blick auf das Massiv der Riesengebirgswand haben.

Goldener Ausblick (Złoty Widok)
Goldener Ausblick (Złoty Widok)

Der nächste Abschnitt führt uns über Höhenrücken und vorbei an den bizarren Felstürmen der Eulensteine („Sowie Skały“), bis wir schließlich bei der Fronleichnamskirche (Kościół Bożego Ciała) in Schreiberhau aus dem Wald heraustreten. Um die Kirche herum finden sich Pilgerplätze, und im Inneren beeindrucken große Wandmalereien. Sie wurde 1884 im neoromanischen Stil erbaut, als der Tourismus in der Region stark aufblühte. Mit ihrer schlanken Gestalt und der erhabenen Lage wirkt sie, als wolle sie direkt in den Himmel zeigen.

Die Eulenfelsen
Die Eulenfelsen

Fronleichnamskirche - Kościół Bożego Ciała
Fronleichnamskirche - Kościół Bożego Ciała

Wandmalereien in der Fronleichnamskirche
Wandmalereien in der Fronleichnamskirche

Von hier ist es nicht mehr weit zurück nach Szklarska Poręba. Wir kommen durch den Rodzinny Park Rozrywki
Esplanada
, wo sich die kurvigen Schienen der Sommerrodelbahn durch den Hang ziehen. Schon vor 100 Jahren gab es hier einfache Holzrutschen für den Winter – heute ist daraus eine moderne Attraktion geworden. Den Abschluss bildet der Felsen Karczmarz, von dem wir einen weiten Überblick über die Stadt haben.

Zeit für eine Jause! Das sonnige Wetter macht die Terrassenplätze in den Restaurants rar. Unser Wunschkandidat, die
Łukaszmühle, ist überfüllt, und so landen wir gegenüber im „U Hochoła“. Oben sitzt es sich gemütlich und entspannt,
und ich bestelle mir eine aromatische traditionelle polnische Bergsuppe, Kwaśnica – mit Sauerkraut und geräucherten
Rippchen. Himmel, ist die lecker!

Schneekoppe light: Von Karpacz zum Bergsee Mały Staw

Wie die Zeit verfliegt! Heute ist schon Donnerstag – nur noch drei Tage bleiben uns. Ich will unbedingt noch eine Bergwanderung machen, und es gelingt mir, Moni von einer Besichtigung aus ihrer Planung abzubringen und stattdessen zu einer längeren Tour zu überreden.

Unsere Wanderung auf den Schneeberg im Glatzer Bergland hat mir Mut gemacht: wir haben gespürt, dass wir auch längere Strecken schaffen können. Die Schneekoppe – auf Polnisch Śnieżka – wäre hier das große Ziel: 1603 Meter hoch, der höchste Gipfel des Riesengebirges, seit Jahrhunderten Grenzberg zwischen Schlesien und Böhmen und mit kargen Granitwänden spektakulär eingefasst. Schon Goethe bestieg sie 1790, später folgten ganze Generationen von Touristen. Doch der einfachste Weg hinauf führt per Sessellift – und der kommt mit unserer Hündin Milli nicht infrage. Mit dem Auto ginge es nur von der tschechischen Seite, was zwei Stunden Fahrt bedeuten würde.

Von Karpacz aus zu Fuß wäre es eine rund 20 Kilometer lange Tour – nichts für unsere erst halbwegs bergfitten Flachlandwaden. Also verzichten wir auf die Schneekoppe selbst und drehen stattdessen eine Runde etwas darunter, zu den beiden Bergseen Mały Staw („Kleiner Teich“) und Wielki Staw („Großer Teich“). Beides sind Gletscherseen, die in der Eiszeit entstanden und schon im 18. Jahrhundert von Künstlern und Reisenden bewundert wurden. Dazu gibt es Berghütten zum Einkehren – eine perfekte Alternative. Mit 11 Kilometern und 500 Höhenmetern klingt die Runde nach einer guten Balance im Vergleich zu den 17 Kilometern und 750 Höhenmetern am Schneeberg.

Als kleines Schmankerl für die Tour musste ich Moni noch die Wang-Kirche versprechen. Dadurch verlängert sich die Strecke leicht, aber der Anfang ist dafür sanfter, was die Steigung angeht.

Die Wang-Kirche liegt von unserer Unterkunft nur einen Hügel weiter. Doch leider ist auch hier die direkte Bergstraße gesperrt, sodass wir einen Umweg fahren müssen. Schließlich finden wir einen Parkplatz unterhalb der Kirche – die Abfahrt dorthin so steil, dass mir bang wird.

Direkt bei der Kirche beginnt unser Weg (die Besichtigung heben wir uns für den Abschluss auf). Zunächst müssen wir Eintritt für den Nationalpark zahlen – und davor in einer langen Schlange warten. Als wir endlich an der Reihe sind, fällt auch noch das mobile WLAN der Kassiererin aus. Wir warten und warten, bis es irgendwann weitergeht.

Dann endlich los. Karten brauchen wir keine, denn ein Strom von Menschen zieht die breite Piste hinauf. Als sich die Gelegenheit zu einer Abkürzung bietet, nehmen wir sie sofort – einfach, um mal zehn Meter ohne Begleitung zu haben. Dafür bekommen wir allerdings einen mühsamen Pfad über Geröll und Wurzeln, der Zeit und Kraft kostet. Nach einer halben Stunde stoßen wir wieder auf den Weg und reihen uns erneut ein.

Der Weg im Nationalpark
Der Weg im Nationalpark

Am nächsten Rastplatz trennt sich die Spreu vom Weizen: die wadenstrammen Bergziegen steigen weiter geradeaus hinauf zum Kammweg, wir anderen biegen links ab. Der Schotterweg wird zum Bergpfad, und plötzlich öffnet sich der Blick auf die gewaltige Steilwand – fast wie in den Alpen. Ich versuche, Fotos ohne Menschen zu machen, doch es will nicht gelingen. Aber auch mit den vielen anderen ist der Weg ein Hochgenuss, und das Wetter spielt mit: sonnig, aber nicht zu heiß – ideal zum Wandern.

Beim Bergsee Mały Staw schließt sich die Steilwand zu einem halben Kessel. Vor der Berghütte wimmelt es von Besuchern, wir setzen uns etwas abseits, packen unseren Proviant aus und genießen den Anblick.

Alpine Felswände bei der Schneekoppe
Alpine Felswände bei der Schneekoppe

Der Bergsee Mały Staw
Der Bergsee Mały Staw

Berghütte am Mały Staw
Berghütte am Mały Staw

An der Hütte vorbei geht es noch einmal steil hinauf zur nächsten, wo wir den Kammweg der Schneekoppe wieder erreichen. Dann folgt der Abstieg – auf gut begehbaren Wegen, aber die Beine werden langsam schwer, die Oberschenkel ziehen, und der Weg will nicht enden. Als wir die Talstation der Seilbahn erreichen, ist unsere Tour noch nicht vorbei: ein letzter Hügel, ein Bach, den wir auf Baumstämmen überqueren, dann stehen wir endlich wieder an der Wang-Kirche.

Monis Kondition ist am Ende, aber der Anblick der norwegischen Stabkirche Wang lässt sofort ihre Neugier aufflammen. Leider können wir nicht gemeinsam hinein (Milli), also gehen wir nacheinander. Die Kirche ist komplett aus Holz und ohne Nägel gebaut. Sie stammt ursprünglich aus dem norwegischen Vang, wurde im 19. Jahrhundert abgetragen und hierher gebracht – gekauft von dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV., der sie eigentlich auf die Berliner Pfaueninsel stellen wollte. Schließlich fand sie in Karpacz ihren Platz und wurde 1844 feierlich geweiht.

Die Besichtigung lohnt sich unbedingt, auch wenn das Innere überraschend klein ist. Umso eindrucksvoller ist der schmale Umgang außen, den zu durchschreiten ein besonderes Erlebnis ist.

Im Inneren der Wang-Kirche
Im Inneren der Wang-Kirche

Die Wang-Kirche
Die Wang-Kirche

Enge Gänge der Wang-Kirche
Enge Gänge der Wang-Kirche

Beine und Geist verlangen nun nach Stärkung. Direkt gegenüber liegt das historische Restaurant Tarasy Wang (Wang Terassen), ein Fachwerkhaus von 1894 mit Hotel und Gasthaus. Da der Wind frisch weht und wir genug Bergluft getankt haben, nehmen wir drinnen Platz. Ich bestelle eine herzhafte Żurek-Suppe. Moni kämpft sich durch einen Berg von Gnocchi, und den Rest nimmt sie als Snack mit heim.

Jelenia Gora

Heute steht eine eher fußfaule Stadtbesichtigung an – wir wollen Jelenia Góra (Hirschberg) unsere Aufwartung machen. Für uns ist die Stadt ein besonderer Ort, seit unser jüngster Sohn vor einigen Jahren eine siebentägige Tramper-Tour durch Osteuropa unternahm. Sein Weg führte ihn auch hierher, und später schickte er uns atemberaubende Fotos aus der Tatra.

Wie für ihn, so ist auch für uns Jelenia Góra ein Tor zum Süden Polens: als wir auf der Anreise aus Berlin den Ortsnamen zum ersten Mal auf den Schildern sahen, freuten wir uns wie Kinder zu Weihnachten – in der Erwartung auf die Überraschungen des Urlaubs.

Mit ihren 75.000 Einwohnern ist die Stadt deutlich größer als Kłodzko/Glatz. Wir fahren durch lange Vororte, die sich nach Süden ziehen, bis wir endlich das historische Zentrum erreichen. Unser Parkplatz liegt direkt am Rynek (Marktplatz). Von dort steige ich zunächst auf den alten Burgturm – den Blick über die Stadt versperren jedoch Dächer, und nur ein Ausschnitt wird sichtbar.

Blick vom Burgturm zum Marktplatz
Blick vom Burgturm zum Marktplatz

Wir schlendern weiter, vorbei an Gardinen- und Stoffgeschäften, die hier noch ganz selbstverständlich zum Straßenbild gehören, während sie in deutschen Innenstädten längst dem Druck der Discounter und des boomenden Onlinehandels zum Opfer gefallen sind.

Ladengeschäfte in Jelenia Góra
Ladengeschäfte in Jelenia Góra

Schließlich stehen wir auf dem großen rechteckigen Marktplatz. In seiner Mitte erhebt sich das Rathaus, das den Platz in zwei Hälften teilt. Um ihn herum reihen sich farbige Bürgerhäuser mit Arkadengängen, die auch bei Regen trockenen Fußes den Gang zu den Läden erlauben. Ein alter Straßenbahnwaggon steht wie zufällig auf dem Platz, heute ein pittoresker Souvenirladen.

Souvenirshop im Straßenbahnwagen
Souvenirshop im Straßenbahnwagen

Bunte Fassaden und Arkaden am Rynek / Marktplatz Jelenia Góra
Bunte Fassaden und Arkaden am Rynek / Marktplatz Jelenia Góra

In den Arkaden am Rynek / Marktplatz
In den Arkaden am Rynek / Marktplatz

Am Ende des Platzes ragt die Pfarrkirche St. Erasmus und St. Pankratius empor, eine der ältesten Kirchen der Stadt. Ihr barockes Inneres überrascht mit reich geschmückten Altären, einer kunstvollen Kanzel und einem mächtigen Orgelprospekt.

Erasmus- und Pankratiuskirche
Erasmus- und Pankratiuskirche

Die Fußgängerzone leitet uns weiter, vorbei an der kleinen Kirche Peter und Paul mit den in die Seitenwand eingelassenen Kreuzen, bis zur riesigen Gnadenkirche Zum Heiligen Kreuz, einem UNESCO-Welterbe und Wahrzeichen der Stadt. Rund um die Kirche liegen alte Kapellen und Grabmäler, stille Fragmente vergangener Jahrhunderte.

St. Peter und Paul
St. Peter und Paul

Kirche zum Heiligen Kreuz
Kirche zum Heiligen Kreuz

Friedhof der Kirche zum Heiligen Kreuz
Friedhof der Kirche zum Heiligen Kreuz

In den Straßen begegnen uns immer wieder kleine Hirschfiguren aus Gusseisen – in verschiedenen Posen, verspielt und würdevoll zugleich. Sie erinnern uns an die Waldmöpse in Brandenburg, nur dass sie hier das Wappentier der Stadt verkörpern.

Hirschfigur in Jelenia Góra / Hirschberg
Hirschfigur in Jelenia Góra / Hirschberg

An einer Seitenstraße stoßen wir auf das Denkmal „Porwanie Europy“ (Raub der Europa): eine Frau mit verbundenen Augen auf einem Stier. Es wurde zehn Jahre nach dem EU-Beitritt Polens errichtet – die Frau (Europa) wird hier von Zeus (als Stier dargestellt) entführt.

Porwanie Europy - der Raub der Europa
Porwanie Europy - der Raub der Europa

Das Schlendern durch die Straßen macht Freude. Wir sehen Gemüsehändler, hören Straßenmusikanten und beobachten eine merkwürdige Nebelanlage, durch die zwei Mädchen juchzend hindurchrennen.

Straße Konopnickiej, Blick zum Turm der Kapelle Hl. Anna
Straße Konopnickiej, Blick zum Turm der Kapelle Hl. Anna

Straße Konopnickiej
Straße Konopnickiej

Luftbefeuchter für die Stadt
Luftbefeuchter für die Stadt

Die Bilder, die wir sehen, rühren an Erinnerungen – als wären die Fassaden mit ihrer Patina ein leichter Vorhang, der sich im Wind bewegt und den Blick auf Geschichten freigibt, die wir selbst erlebt, gelesen oder in Filmen gesehen haben.

Auf dem Rückweg kehren wir im Café Pikavka ein – Kaffee und Kuchen verwöhnen uns. Bei der Rückfahrt halten wir noch beim Supermarkt Biedronka, um ein paar Sachen für den Abend einzukaufen.

Ein Mann im Nachbarwagen kurbelt die Scheibe herunter und deutet auf meinen Reifen. Ich steige aus – und sehe, wie ein blanker Schraubenkopf im Gummi steckt. Ein Schreckmoment. Oh nein!

Da kommt ein anderer Mann herüber, entschuldigt sich in bestem Schweizerdeutsch für sein angeblich schlechtes Deutsch – eine liebenswerte Untertreibung – und bietet sofort seine Hilfe an. Gemeinsam gießen wir Wasser über die verdächtige Stelle. Keine Blasen steigen auf. Vorläufige Entwarnung.

Vorsichtig fahren wir nach Hause, immer mit gespitzten Ohren für jedes ungewöhnliche Geräusch. Am Abend suchen wir eine Werkstatt – und bekommen tatsächlich noch nach acht den Reifen geflickt.

Rückblickend erscheint es wie eine kleine Episode, eine Lapalie. Und doch erinnere ich mich, wie sehr mich die Sorge sofort in Beschlag nahm, wie sie dunkle Szenarien malte und mir die Freude am Tag zu rauben drohte. Wir hatten schon ein paar Pannen, und die Vorstellung, erneut mit Sack und Pack per Bahn heimkehren zu müssen, hat mich wohl tiefer getriggert, als ich mir eingestehen wollte.

Autoreparatur
Autoreparatur

Das Beste kommt zum Schluss

So richtig vertrauen wir dem geflickten Reifen nicht – doch am nächsten Tag ist die Luft noch drin. Nichts spricht also gegen den Ausflug in das Dorf der neuen Verwandtschaft. Etwas mehr als eine halbe Stunde fahren wir über kleine Straßen, die sich wie geschwungene Linien durch das Hirschberger Land ziehen, hinein in eine sanft gewellte Landschaft, die sich schmeichelnd ausbreitet.

Die Blicke weiten sich: goldene Kornfelder wechseln mit grünen Wäldern, staffeln sich bis zum Horizont, immer wieder gekrönt von alten Burgen und Gutshäusern. „Arkadien“ nannten die Reisenden des 18. und 19. Jahrhunderts solche Landschaften, in denen Natur und Kultur so innig zusammenspielen, dass sie wie ein Gemälde wirken. Arkadien – ursprünglich eine Hirtenlandschaft in Griechenland – wurde zum Sehnsuchtsbegriff für ideale Orte wie diesen.

In einem kleinen Dorf, erhaben gelegen mit weitem Blick, finden wir das Haus: ein Bauernhof mit Mauern dick wie eine Burg. Wir werden herzlich empfangen. Was auf dem Herd steht, wird aufgetischt: Suppe, Gołąbki, Kaffee, Kuchen – und danach gleich noch einmal. Ein Spaziergang durch die Straßen und Felder, Türen zu den benachbarten Verwandten öffnen sich, überall ein Lächeln, eine Einladung. Zum Schluss ertönt die Glocke des Eiswagens, und wir strömen zur Festwiese, wo ein Dorffest gefeiert wird – und wir zum Abschied noch ein Eis spendiert bekommen.

Am folgenden Tag heißt es packen. Wir treten die Rückfahrt an – von der schönsten Reise seit langem.

in den Hügeln von Przesieka
in den Hügeln von Przesieka

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