Die Toskana Deutschlands - Südniedersachsen

Jedes Jahr nehmen wir Geschwister uns vor, uns zu treffen, schaffen es aber nicht immer. Umso schöner, wenn es dann doch klappt. Dieses Jahr haben wir unser Zusammenkommen in Deutschlands Mitte veranstaltet, was für alle Beteiligten annähernd gleich lange Anfahrtswege bedeutete.

Südniedersachsen erstreckt sich als schmaler Zipfel zwischen Solling und Harz; Mittelpunkt dieser Landschaft ist die renommierte Universitätsstadt Göttingen. Ich hatte geplant, in der „Mutter Jütte“ in Bremke zu übernachten – ein Traditionsgasthaus, das zwar keine Küche mehr betreibt, aber zumindest Zimmer anbietet.

Mutter Jütte

Die „Mutter Jütte“ war bei Göttinger Studenten beliebt, die das Gasthaus als Pauklokal nutzten und dort ihre Mensuren abhielten. Ich hatte leider das Angebot meiner Schwester ausgeschlagen, mir dort ein Zimmer reservieren zu lassen – das könne ich auch selbst übernehmen. Ich suchte online und buchte bei der Jütte … leider im falschen Ort. Am Ende landete ich in Ebergötzen, etwa eine halbe Stunde Autofahrt entfernt.

Gasthaus Jütte, Bremke
Gasthaus Jütte, Bremke

Ebergötzen

Doch Überraschungen geschehen oft gerade dort, wo man sie am wenigsten erwartet, wie Wilhelm Busch einst schrieb. Auf den täglichen Fahrten offenbarte mir die Region ihr hübsches Antlitz: eine sanft hügelige Landschaft, fein gegliedert wie ein buntes Mosaik, durchsetzt mit alten Fachwerkdörfern, die wie aus der Zeit gefallen wirken. Die Straßen schlängeln sich hinauf und hinab, und jeder Augenblick schenkt neue Ausblicke.

Landschaft in Südniedersachsen
Landschaft in Südniedersachsen

Das ruhige Sägen des Brötchenmessers

Das Gasthaus Jütte in Ebergötzen bot eine solche Ruhe, dass ich erholter als sonst erwachte. Das Frühstück wollte ich mit meinen Geschwistern einnehmen, daher beschränkte ich mich zunächst auf einen Kaffee – und ein Rührei, das auf Wunsch frisch zubereitet wurde.

Am ersten Morgen saß mir in einer gemauerten Kaminecke ein liebevoll gealtertes Paar gegenüber, das in einer mir fremden, doch vertraut klingenden Sprache plauderte. Mal hörte ich englische Worte, dann vielleicht Niederländisch. „Schwedisch“, erklärte mir der Mann später, er sei auf der Rückreise von Frankfurt.

Am zweiten Morgen saß ich allein mit einem Tischnachbarn und verzichtete auf das Rührei. Ich genoss meinen Kaffee in der Stille, als mein Gegenüber seelenruhig sein knuspriges Brötchen mit dem Brotmesser sägte – in einem so gleichmäßigen, rhythmischen Raspeln, dass für einen Moment die Zeit stillzustehen schien und mich ein Glücksgefühl durchströmte. Nichts müssen müssen – wie wunderbar.

Geister

Die Anfahrt nach Bremke führte durch dichte Nebelbänke; am Vorabend hatte sich dieser Schleier bereits angekündigt: Von der feuchten Straße stiegen filigrane Nebelfähnchen auf, und im Fernlicht konnte man sich kaum des Eindrucks erwehren, durch eine Polonaise von Geistern zu fahren.

Die Gleichen

In Bremke wollten wir zu einer Wanderung zum Eschenberg und zu den Gleichen aufbrechen. Die Gleichen sind zwei nebeneinanderliegende Gipfel, die nahezu identisch wirken. Der bedeutende Mathematiker David Hilbert aus Göttingen fragte einst seine Studenten, warum die Gleichen so heißen – und antwortete in die ratlosen Gesichter: „Weil sie den gleichen Abstand zueinander haben.“ Wahrscheinlich muss man Mathematiker sein, um darüber zu schmunzeln.

Die Gleichen
Die Gleichen

Wild Horses

Wir unternahmen zwei Anläufe für eine Wanderung: Beim ersten machten wir kehrt, als es zu regnen begann. An einer Pferdekoppel am Weg stoben rund zehn Pferde wild umher – Staub und Gras wirbelten durch die Luft, als seien sie alle zugleich von einem Dämon besessen, bis ein Blitz den Himmel zerriss und ein grollender Donner folgte.

Wild Horses
Wild Horses

Wild Horses
Wild Horses

Wanderung

Beim zweiten Versuch hatten wir mehr Glück: Die „Dämonen“ hatten die Rösser verlassen, und der Tag versprach trocken zu bleiben, wenn auch kühl. Wir wanderten am Heiligenbach entlang bis zur Heiligenquelle am Fuß des Eschenbergs, überquerten ein Wiesenfeld mit wilden Orchideen und erreichten erst den Alten, dann den Neuen Gleichen.

Immer wieder entzückte die Szenerie mit augenschmeichelnden Panoramen. Sogar der Brocken im Harz, gute fünfzig Kilometer entfernt, ließ sich von der Höhe aus erkennen.

Wanderung an den Gleichen
Wanderung an den Gleichen

Blick vom Eschenberg
Blick vom Eschenberg

Blick von Bremke auf den Eschenberg, dahinter die Gleichen
Blick von Bremke auf den Eschenberg, dahinter die Gleichen

Blick vom Eschenberg nach Gelliehausen
Blick vom Eschenberg nach Gelliehausen

Auf dem Rückweg vom Bäcker, Futter fürs Brötchenmesser
Auf dem Rückweg vom Bäcker, Futter fürs Brötchenmesser

So vergingen die zwei Tage wie im Fluge, zu den Erinnerungen an die Gespräche und das Miteinander mischen sich nun Bilder der zauberhaften Landschaft.

Auf bald, liebe Geschwister. Hoffentlich nächstes Jahr!

Nachtrag zu David Hilbert und den Gleichen

Ich musste doch noch mal zu Hilberts Anekdote recherchieren:

David Hilbert (23. Januar 1862 in Königsberg, † 14. Februar 1943 in Göttingen) war einer der einflussreichsten Mathematiker des frühen 20. Jahrhunderts. Er wirkte ab 1895 an der Universität Göttingen, wo er bis zu seiner Emeritierung 1930 lehrte. Göttingen war für Hilbert nicht nur Wirkungsstätte, sondern das Zentrum seines wissenschaftlichen Lebens. Hier verfasste er bedeutende Werke, darunter Grundlagen der Geometrie (1899), das mit seiner axiomatischen Begründung der euklidischen Geometrie einen Meilenstein darstellt. Hilbert prägte damit grundlegend die moderne Auffassung von Raum und Abstand.

Hilbert beschäftigte sich intensiv mit Geometrie und Metrik, also dem mathematischen Begriff des Abstands. Seine Arbeiten führten zur Abstraktion der Begriffe Punkt, Gerade und Ebene – losgelöst von der Anschauung, allein durch axiomatische Festlegungen.

Die Symmetrie von Abständen, also dass der Abstand von Punkt A zu Punkt B gleich dem Abstand von B zu A ist (mathematisch: D(A, B) = D(B, A)), erscheint uns selbstverständlich. In der Mathematik ist das eines der Grundaxiome von Metriken und wird als Symmetrieeigenschaft bezeichnet.

Lässt man diese Symmetrie weg, gelangt man zu einer Quasi-Metrik – einer Verallgemeinerung, die erst nach Hilberts Zeit entwickelt wurde. Ein praktisches Beispiel ist die Reisedauer im Straßennetz: Die Fahrtzeit von A nach B ist nicht notwendigerweise gleich der von B nach A, etwa wegen Einbahnstraßen, Ampelphasen oder Verkehrsaufkommen. In solchen Fällen ist der „Abstand“ zwischen zwei Punkten asymmetrisch – genau das modellieren Quasi-Metriken.

Hilbert soll seine Studierenden gefragt haben, warum die beiden markanten Hügel bei Göttingen „Die Gleichen“ heißen. Als niemand antwortete, sagte er lächelnd: „Weil sie den gleichen Abstand zueinander haben.“1 Auch wenn die Anekdote wohl eher augenzwinkernd gemeint war, spiegelt sie doch auf charmante Weise seine lebenslange Beschäftigung mit dem Begriff des Abstands wider.



Grundlagen der Geometrie wurde rasch zu einem der einflussreichsten Werke der modernen Mathematik. Es erschien in über einem Dutzend Auflagen und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Hilberts axiomatischer Ansatz beeinflusste nicht nur die Geometrie, sondern auch Logik, Mengenlehre und die spätere Entwicklung der mathematischen Strukturanalyse.


  1. Die Anekdote ist in verschiedenen Versionen überliefert, unter anderem im deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag zu David Hilbert (Stand 2024). Eine verlässliche Primärquelle ist nicht bekannt, doch sie ist in mathematischen Kreisen gut etabliert. ↩︎

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